Wie glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist?

 

„Glücklich ist, wer vergisst", so beginnt im I. Akt der Refrain zu einem Couplet („Trinke Liebchen, trinke schnell!") aus der Operette Die Fledermaus" von Johann Strauss. Gegenüber der Originalversion soll allerdings das vermeintliche Glück des Vergessens, offenbar die fatalistische Dreingabe in die Aussichtslosigkeit – nach dem Motto: „FERAS, NON CULPES, QUOD MUTARE NON POTES“ (zu Deutsch: Ertrage, nicht beklage, was du nicht ändern kannst) – infrage gestellt werden.

 

 

Duidu immerzu

In der besagten Operette zeigt sich im Salon des reichen russischen Magnaten, Prinz Orlofsky, die Wiener Schickeria – einschließlich ihres weiblichen Hauspersonals, das sich gern als „Unschuld vom Lande“ ausgibt – zur vorgerückten Stunde in prickelnder Stimmung, zumal sie sich allesamt „im Feuerstrom der Reben“ wähnen. Doch bei aller Champagnerlaune, die schwungvoll besungen wird und letzthin bei den neckischen, bald fraternisierenden Protagonisten – Zitat: „Brüderlein und Schwesterlein, wollen alle wir sein“ – zu kollektivem Vollrausch führt, sollte bei dem gelallten „Duidu immerzu“ vielleicht die nüchterne Frage erlaubt sein: Wie glücklich kann man sein, wenn man auf das Vergessen baut?

An nächster Stelle heißt es: „Flieht auch manche Illusion, die dir einst dein Herz erfreut, gibt der Wein dir Tröstung schon durch Vergessenheit.“ Waren es nicht etwa Walzerklänge zu einem Tanz wie auf dem Vulkan? Wie nah war das angeheiterte „Trink mit mir, sing mit mir, Lalala, lalala …“, das wie die lebenslustige Begleitmusik zu einer heiteren Komödie anmutet, schon am Abgrund der Tragödie? Heißt es doch bekanntlich: „Gestern noch standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter“. Nun ja, „beim Wein, der Tröstung gibtschon durch Vergessenheit“, ist die folgende Katerstimmung garantiert.

Wenn man sich auf die Entstehungszeit der zweifellos erfolgreichsten Strauss-Operette besinnt, so feierte sie – mit einem Feuerwerk an Ideen, einem Weltrekord von Melodien – ihre Uraufführung am „Theater an der Wien“. Ein Musikstück des damals noch unfertigen Werkes, der Csárdás – wir kennen ihn aus dem zweiten Akt „Klänge der Heimat, ihr weckt mir das S(ä)hnen (breitgesprochen nach Ungarnart), rufet die Tränen …“ – wurde bereits bei einem Wohltätigkeitskonzert im Oktober 1873 erstmals dem Wiener Publikum vorgestellt. Wegen des großen Erfolges wurde die Uraufführung der gesamten Operette rasch vorangetrieben, musste aber infolge der inzwischen ausgebrochenen Wirtschaftskrise mehrfach verschoben werden.

 

Desaströs

Jener „Wiener Gründerkrach“, einer der zahlreichen „Schwarzen Freitage“ der Weltgeschichte, erschütterte die Donaumonarchie am 9. Mai 1873 bis ins „kapitale“ Mark. Dem Geld, das neuerlich die Welt regieren sollte, war unter Kaiser Franz Josef II. eine neue, eminente Rolle im Leben der Gesellschaft beigemessen worden. Die von ihm 1873 ins Land geholte Weltausstellung, ein internationales Schaufenster des seinerzeit Machbaren, hinterließ ein Defizit von 19 Millionen Gulden. Der Verfall der betrügerisch aufgelegten Aktien führte zu einem unsäglichen Desaster für die Geldanleger, die vielen Reichen, aber auch Neureichen, deren Einlagen auf der Welle der damaligen Aufbruchsstimmung die Kapitalmärkte fluteten. Der große Schwindel flog auf und in dem Taumel der Geldgier verloren nicht wenige den Boden unter ihren Füßen. In dieser Folge hatten auch die notorischen Habenichtse, die von ihren aristokratischen und großbürgerlichen Arbeitgebern abhängig waren, noch weniger als vorher, oft nicht mehr als nichts.

 

Schwarzer Freitag an der Wiener Börse am 3. Mai 1873

 

Dem Elend zum Trotz feierte in Wien der vorherrschende, geradezu bacchantische Hedonismus feucht-fröhliche Urständ‘, nach der Devise: Auch wenn alles keinen Sinn hat, soll der Unsinn wenigstens Spaß machen.

 

Verdrängungskultur

Ist aber unter diesen Umständen das bloße Vergessen ein guter Ratgeber? Freilich, das Banale, es vergisst sich rasch von selbst. Das Besondere, vor allem Angenehme, das erfahrene Glück, vielleicht auch Rühmenswerte nehmen wir gerne zum Gegenstand unserer Erinnerungskultur. Im gegenteiligen, negativen, gar schrecklichen Fall, pflegen wir stattdessen eher die Verdrängungskultur. Was jedoch diese Kultur betrifft, so ist bemerkenswert, dass sich im zeitlichen Umfeld „Schwarzer Tage“ immer wieder ungeahnte, neue Kräfte entwickelten, die zu einem weit findigeren Erfinder- wie auch prosperierenden Unternehmergeist, zudem zu einer Hochblüte künstlerischer Kreativität führten.

Man denke nach dem katastrophalen Ersten Weltkrieg an die Goldenen Zwanziger, andernorts treffend als „Roaring Twenties“ charakterisiert. Freilich, 1929 platzte wieder mal weltweit die gigantisch aufgeblähte Kapitalblase, ausgehend von der Wallstreet in New York, diesmal an einem „Schwarzen Donnerstag“.

Wo man den sicheren Boden bereits unter den Füßen verloren hatte, ließ sich – nunmehr ohne lähmende Bodenhaftung – die Grundlage für eine neue Existenz finden. Es hieße also: Frisch gewagt! Denn verlieren, wenn man ja schon alles verloren hatte, konnte man nichts mehr. So sind manche Geniestreiche, wie auch damals die überschäumende „Fledermaus-Operette“, gerade in Zeiten scheinbarer Aussichtslosigkeit kreiert worden.

Von wegen „was doch nicht zu ändern ist.“ Sollte man nicht besser sagen: Glücklich ist, wer s i c h  ä n d e r n  kann. Auch wenn die Situation verfahren erscheint, so mag man den Lauf der Dinge wenden, was heißt, sich notgedrungen neu zu erfinden. 

 

Verändert nach einem Blog des Autors auf der Website von MakSi 2017

Abbildung: Charge zur Uraufführung der Fledermaus am 5. April 1874. Man sieht über allem Johann Strauss sowie Marie Geistinger als Rosalinde und Jani Szika als Gabriel von Eisenstein, In: Die Bombe, 12. April 1874 (Titelblatt), gemeinfrei

Abb. Titelseite vom Notenalbum Du und Du" und Schwarzer Freitag an der Wiener Börse am 3. Mai 1873, beide Abb. gemeinfrei

 

 

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