Wenn schon im Titel von „Art und Weise“ die Rede ist, so mag es naheliegend sein, die dort benannte geflügelte Natur, auch wenn sie, wie in unserem Fall, allegorische Wesen und mythologische Figuren betrifft, aus biologischem Blickwinkel zu betrachten. Die Bezeichnung „Art" steht für „taxonomisch-morphologisch" und die „Weise" für „physiologisch", hier in Sonderheit „flugphysiologisch".
Am Anfang steht die Systematik, Mutter aller Wissenschaft. Zur Differenzierung in diesem Sinne soll zunächst das umfangreiche Spektrum der geflügelten Vielfalt entfaltet werden: Vorab der Erzengel Gabriel, brachte er doch als Verkündigungsengel Maria die frohe Botschaft, dass sie, obwohl sie bis dahin „keinen Mann erkannte", wie die Jungfrau zum Kind kommen werde. All dies in der Vorbedeutung der Menschwerdung von Gottes Sohn höchst daselbst. Ebenfalls ein Engel flüsterte Josef im Traum ein: „Nimm sie! Nimm es, wie es kommen soll!"
Nach dem Erzengel Gabriel kommt in der Bedeutsamkeit der für Gott und gegen das Böse kämpfende Erzengel Michael. Auch gegen den anmaßenden Luzifer – vom Namen her eigentlich der „Lichtbringer" –, trat er an und stieß den Widersacher aus des Himmels lichten Höhen hinab in den Orkus, den die Christen – Teufel noch mal! – Hölle nennen.
Erzengel Michael stürzt Luzifer
Das gesamte „geflügelte Personal", ob aus der Oberliga der Erzengel- oder den namenlosen Synergisten der himmlischen Chöre, sie alle bleiben durch freie Hände und zusätzliche Flügel auf den Schultern selbst im Moment flugartiger Erhebung im eigentlichen Wortsinn „h a n d lungsfähig“.
Flugfähige Gestalten finden wir vielfach auch in der griechischen Mythologie. Fangen wir mit dem Ende an: Da sind die Jünglinge Hypnos und Thanatos, jene Schlaf- und Todesbringer. „Schlafes Bruder", sagt man, „ist der Tod". Und ohne dass er daran gehindert werden kann, fliegt er irgendwo und irgendwann „todsicher" einen jeden von uns an.
Hypnos (l,) für den Schlaf, Thanatos (r.) als Todesengel
Dann die umschwärmenden „allegorischen Schießer", kleine Jung's – vielleicht auch Neutren –, die für ihre „Flitzebögen" Liebespfeile mit sich führen. Treffen sie Menschen, auf die sie's abgesehen und abgezielt haben, damit ins Herz, werden die Getroffenen mitunter zu irrationalen, aber letzthin arterhaltenden Verhaltensweisen beflügelt. Ordnen wir jene kecken Gestalten Eros, Cupido oder Amor zu.
Der geflügelte Cupido mit Liebespfeilen in der Hand
In der Frührenaissance bemächtigten sich die antiken Eroten der gotischen Engelkinder, woraus später die barocken, gern wohlgenährten Putten hervorgingen.
Puttenengel tragen (scheinbar) einen barocken Kanzelkorb
Was Benachrichtigungen in Liebesdingen betrifft, muss man Hermes (bzw. Merkur) den Götterboten zitieren, den man an geflügelten Sandalen erkennt. Selbst seinen Hut zieren Flügel. Wollen wir hoffen, dass ihm ob der Nachrichten, die er überbringen soll, nicht auch der Hut hochgeht.
Mercurius
Nun sind seine Flügel, ob an den Hacken oder am Helm, keine Gewächse körperlicher Natur, sondern künstlich angefügte Flughilfen, wie auch bei Ikaros, der es dem genuinen Geflügel mittels angepappter Federn nachmachte. Das mit Wachs zu tun, war jedoch keine gute Lösung, denn unter der Sonneneinwirkung lösten sich die Federn ab. Und so stürzte daraufhin Ikaros in seinem Leichtsinn ab. Es brauchte seitdem Jahrtausende, bis sich ein Leonardo da vinci theoretisch und Otto Lilienthal praktisch gegen das Naturgesetz der Schwerkraft erheben konnten. Zunächst war es nur ein Gleiten. Später war der Mensch mittels Motoren in der Lage auch ohne Unterstützung thermischer Aufwinde, also aus eigenem Antrieb aufzusteigen, was man fliegen nennt.
Sturz des hochfahrenden Ikarus
Was in der antiken Sagenwelt das Fortkommen durch tierlichen Beritt anbetrifft, zeigt uns das ungestüme Himmelsross mit Namen Pegasos, das allenfalls Bellerophon zu zügeln verstand, ohne dass ihm aber die Himmelfahrt auf dem Rücken dieses Pferdes vergönnt war. Besagter Pegasos soll auch Dichter zu Ihrer Kunst „beflügeln".
Geflügeltes Einhorn
Noch ein anderes, geflügeltes Pferdewesen, wobei weniger die Flügel als das Einhorn auf der Blesse die Spezies kennzeichnet, soll alttestamentarisch belegt sein. Schlägt man allerdings im 4. Buch Mose unter 23, 22 bzw. 24, 8 oder Psalm 22, 22 bzw. 92, 11 nach, so ist nach den Übersetzungen über ein Ross dergestalt nichts Konkretes nicht zu erfahren. Man erfährt allerdings von der Kraft eines tierlichen Hornes. Offensichtlich beziehen sich die christlichen Enzyklopädisten auf eine in mehrfachen Fassungen überlieferte Zusammenstellung biblischer Tiersymbolik, die letztlich auf „Physiologus", einen nicht näher genannten naturkundigen Meister altchristlicher Zeit zurückzuführen ist.
Von der unklaren Pferdenatur des Einhorns (wir wissen heute, dass es sich um den linken Eckzahn des männlichen Narwals handelt) zu jenen Mischwesen, die zumindest in einem Teil ihres Körpers menschliche Kennzeichen zeigten. Es versteht sich von selbst, dass ein Teil dem Vorderteil des Menschen zugehören scheint und das Hinterteil einem Tier (nicht etwa umgekehrt). Hierzu zählen als Beispiele auch die sagenhaften Harpyien, geflügelte Fabelwesen der griechischen Mythologie in Vogelgestalt.
In früheren Erzählungen werden sie als schöne Frauen mit blondgelocktem Haar und Vogelflügeln beschrieben. Später sind sie kraus- und grauhaarige Dämonen. Wie hässliche Aasgeier müssen sie auf Geheiß von Zeus mit ihren kräftigen Klauen Menschen töten, die den Zorn des Göttervaters erregt haben.
Wehe, wenn die Harpyen sich ihr Opfer krallten !
Harpyien sollen schneller als der Wind und unverwundbar gewesen sein. Sie suchten als Rächerinnen eines Vergehens ihre Opfer heim und brachten, von Zeus beauftragt, schließlich die Seelen der Toten in den Tartaros.
Geflügelte Mensch-Tier-Gestalten sind sicherlich ihrem altorientalischen Ursprung nach auch jene Cherubine und Seraphime, die unter anderem das himmlische Heer der Engel rekrutieren. Nach Jesaia 6,1 ff. gleichen sie Menschen, Löwen, Stieren, Adlern, sie haben eine Vielzahl von Augen und tragen sechs (!) Flügel. Wie sollten sie damit geflogen sein? Nun ja, Libellen haben vier, Falter ebenfalls – davon allerdings zwei miteinander gekoppelt.
Im Nachfolgenden eine systematische Übersicht des eben aufgeführten Geflügels. Die Einteilung erfolgte nach Kategorien des LINNEischen Systems. Da es sich um eine künstliche Gruppierung handelt, die überdies Beispiele einer Art „systema supra-naturae" mit einschließt, soll die umfassendste Einheit nicht nur als „Klasse", sondern als „Extra-Klasse“ bezeichnet werden.
(Extra)-Klasse: Alata (Geflügel im Allgemeinen und im Besonderen)
Unterklasse: 1. Genui-alata 2. Alata-per-instrumentale
genuines, körperhaftes Geflügel instrumentales Geflügel
Bsp.: Batman, Ikaros,
Schneider von Ulm (Abb. s. u.) etc.
Ordnung: Homonomiformes
Extremitätenflügler
Unterordnung: a) Bracchialata
Arm-/Handflügler
Bsp. Vögel, Fledertiere,
Flughunde, Flugsaurier, Harpyen
b) Non-Homonomiformes
Zusatzflügler
Unterordnung: a) Pleuralata Flankenflügler
Bsp. Fluginsekten, Flughörnchen
b) Scapulalata Schulterblattflügler
Familien: Zoo-scapulidae
Bsp.: Drachen, Pegasos, Einhorn
Anthropo-Scapulidae
Amor, Hypnos, Thanatos
Gattung: Angelus-Anthropo-Scapulidae
Archaetypische Seraphinen und Cherubime
Arten: Angelus archaetypicus
Angelus cupidoides
Angelus luciferus post-nonsanctus
Ein besonderes Augenmerk gilt Angelus. Innerhalb dieser Gattung könnte noch weiter nach Arten differenziert werden, diese wären archaetypicus bzw. cupidoides oder gar angelus luciferus post-nonsanctus. Auch weitere Unterarten bzw. Rassen wie Rauschegoldengel, Posaunenengel u. ä. wären ggf. zu benennen.
Hier soll es nur um die Gattung Angelus gehen, deren umfassendes Kennzeichen Menschenähnlichkeit und gefiederte Beflügelung an den Scapulae (Schulterblättern) ist.
Um es vorweg zu sagen, es treten nicht unerhebliche Schwierigkeiten auf, rückenseitig angesetzte Flügel anatomisch und physiologisch zu erklären. Hierzu sollte der Leser zunächst mit den faktischen Gegebenheiten des menschlichen Schultergürtels vertraut gemacht werden.
Der menschliche Brustkorb, in kopfloser Ansicht von oben gesehen.
Oben (= rückseitig) mit linkem Schulterblatt, unten (= vorne) Brustbein
Gelegentlich wird mit Verwunderung festgestellt, dass unsere u. U. schwertragenden Arme keine knochenfeste Verbindung zum Achsenskelett zeigen, wie vergleichsweise unser Beckengürtel. Die einzige, äußerst fragile Verbindung zum Achsenskelett zeigen vorne die Schlüsselbeine (Claviculae), die das Brustbein in Schulterhöhe verbinden. Aus der Zeichnung ist zu ersehen, dass das Schulterblatt dort auch keine Verbindung zu den Rippen des rückseitigen Brustkorbes oder den Wirbelfortsätzen hat. Das Schulterblatt und damit die Zugwirkung über die Arme wird allein durch die gegenwirkende Anspannung der Rückenmuskulatur geleistet.
Nun könnte man denken, dass die Unverbundenheit der Schulterblätter genügend Beweglichkeit für einen schwingenden Engelflügel bieten könnte. Man wird jedoch nicht übersehen können, dass der Bewegungsspielraum außerordentlich gering sein würde. Die außen sichtbaren Bewegungen unseres Schulterblattes sind im Wesentlichen nur Veränderungen der Muskelskulptur, die zwischen Rücken- und Armmuskulatur in Maßen in Bewegung gerät und das Schulterblatt dabei in wechselnder Verformung hervortreten lässt.
Also auf diese Art konnten die Engelgestalten ihre Schwingen sicher nicht kraftvoll in Bewegung setzen.
Außerdem wäre ein Flügelgelenk für den Ansatz einer Armschwinge erforderlich. Ließe sich hierfür hypothetisch eine Gelenkstelle auf der Versteifungsfalte des ansonsten flächigen Schulterblattes lokalisieren? Im vorderen Drittel dieser sog. Spina scapulae müsste dort eine Gelenkpfanne für die Aufnahme der Armschwinge, den „Femur alae Angelorum“ angenommen werden.
Allerdings hätten wir dabei die Rechnung ohne die Muskulatur gemacht. Natürlich befindet sich niemals Muskulatur auf dem Element, das diese in Bewegung setzt, d. h. in diesem Fall, also niemals auf dem Flügel selbst. Sie müsste am Brustkorb ansitzen. Kein Problem für die Erklärung des Flügel-Aufschlags. Hierzu müssten entsprechende Muskelfasern auf der Rückenseite sich verkürzen, so dass die Schwingen angehoben würden.
Wie sollte nun aber der Flügel-Abschlag erklärt werden? Gerade der Abschlag bringt die gebotene, engelhafte Erhebung. Beim Geflügel sitzen die Abschlagsmuskeln am Brustbein – Feinschmecker und Hobbyanatomen kennen die Brustmuskeln als Hühnerbrüstchen.
Bei unseren hypothetischen Schulterblattflüglern dürfte allerdings eine Verbindung von Brustbein und Rückenseite kaum in Frage kommen. Man stelle sich einmal die hierzu notwendigen, den Brustkorb bis auf die Rückenseite umgreifenden Muskel- und Sehnenzüge vor. Die sich daraus ergebenden Schwellungen des Oberkörpers könnten bestenfalls pummelige Putten, die nach barocker Manier himmlischen Wohlstand verkörpern, unter ihren Speckbrüstchen verstecken .
Würde man nun das Flügelschlagen einfach mit der Armmuskulatur verbinden, so müsste man sich die Engel in einer Weise fliegend vorstellen, dass sie Flügel und Arme im gleichem Takt schlagen müssten.
Wenn man es zusammenfasst, kann man nur zur Schlussfolgerung gelangen, dass die bei den sog. Schulterblattflüglern angedachten Flügelkonstrukte aus biologischer Sicht, theoretisch wie auch praktisch, nicht möglich sind.
Die anatomisch-physiologischen Erfordernisse, die der Versinnbildlichung des „himmlischen Geflügels" dienen, können allenfalls durch Montage nach der Art von „Wolpertingern“ (bayerisches Wort) befriedigt werden. Das sind präparierte Tierbälge, die aus Zutaten verschiedener Herkünfte eine ganz neue Art vorgeben. Jäger belieben gelegentlich Jagdtrophäen auf diese Weise zu verball-„hornen", wenn z. B. das Gehörn eines Rehbocks auf einen Hasenkopf aufgesetzt wird. Zudem besitzen solcherart Mischwesen auch noch Gefieder und vorstehende Hauer. Alles in allem Kokolores.
Wolpertinger, gehörnt und geflügelt
(in Anlehnung an Dürers Bild vom Feldhasen )
Manche mythische Gestalt hat sich als durchaus konkrete Vorahnung und volkstümliche Vorstellung von realem, gleichwohl fossilem Getier herausgestellt. So wissen wir, dass die Drachen – wie kamen einige von ihnen bloß zu den Flügeln? – schon längst sehr detailliert gezeichnet werden konnten, bevor die Wissenschaftler sie als Saurier entlarvten. Schließlich hat man auch das vermeintliche Stirnhorn des Einhorns gefunden.
Wie sollten wir nun aber die Engel sehen? Besinnen wir uns auf die Tatsache, dass wir seit alters her gewohnt sind, sie gleichsam als Menschen mit Flügeln zu sehen. Biologisch unhaltbar, wie nachzuweisen war. Aber das ficht natürlich die „himmlischen Engel" nicht an.
Die Fehlerhaftigkeit unserer bildlichen Vorstellungen von ihnen entspricht den allegorischen Montagen, die – in den Bildern erst einmal fixiert – zum traditionellen, vermeintlich unveränderbaren Gebrauchsmuster geraten sind.
Vergessen wir auch nicht, dass diese Bilder sich oftmals verselbständigt haben. Sind die Engel doch vielfach nur zur Deko geraten, zu Anmutungsobjekten einer infantilisierten Weihnachtsseligkeit.
Kurzfassung nach einem fast wissenschaftlichen Vortrag des Autors anlässlich eines vorweihnachtlichen Beisammenseins, Dezember 1987
Der Erzengel Michael (1518; Louvre): Le Grand Saint Michel, by Raffaello Sanzio, gemeinfrei
Omnia vincit Amor (Amor besiegt alles), Michelangelo Merisi da Caravaggio, 1602, gemeinfrei
Kanzelputte, Stiftskirche Keppel, Aufn. E. Isenberg
Buchillustration, Philippe-de-Commynes-sieur-d'Argenton-et-al-Mémoires-de-messire-Philippe-de-Comines,1747, gemeinfrei
Sturz des Ikarus, Carlo Saraceni 1579–1620, gemeinfrei
Harpyie, Kupferstich von Matthäus Merian, um 1650, aus der Historia Naturalis des John Johnston, gemeinfrei
Anatomische Skizze des menschlichen Brustkorbes, von oben, in kopfloser Ansicht gesehen.
Postkarte (Stadtarchiv Ulm): Darstellung von Albrecht Berblingers Flugversuch über die Donau zu Ulm 1811
Wolpertinger (in Anlehnung an den Feldhasen Albrecht Dürers) Erstellt: 1509, Rainer Zenz, Wolpertinger, GNU Free Documentation License