Wenn das Telefon im Kühlschrank klingelt

 

Es sind Momente, die nachdenklich machen, wenn es im Kühlschrank klingelt und man sich fragen muss: „Kann das richtig sein?“

Natürlich tut die niedrige Temperatur des Kühlschranks einem schnurlosen Telefon nicht gut, vor allem dem Akku nicht. Aber das war nicht mal das eigentliche Problem, eher die Frage, wieso kommt ein Telefon ausgerechnet in den Kühlschrank?  

Es sei denn, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine längere Unterhaltung am Telefon vorausging. Nach Beendigung des fast einstündigen Telefonats kam das Bedürfnis auf, sich umgehend, da der Mund schon trocken geredet war, aus dem Kühlschrank was zu trinken zu nehmen. Da eine Flasche, um den Drehverschluss zu öffnen, gegen die Drehrichtung gehalten werden muss, brauchte es zwei Hände dazu. Ach, ja, – wohin mit dem Mobiltelefon unterdessen?

Aus der Hand gelegt, lag es danach immer noch im Kühlschrank. Wenn nicht später ein weiterer Anrufer angeklingelt hätte, wäre es dort gewiss auch  länger noch zwischen Joghurt und Sahne gelegen.

 

 

Wer denkt da nicht an erste Anzeichen von Demenz? Nun mag es Ältere vielleicht trösten, dass schon weit Jüngere, selbst Kinder so handeln würden. Schließlich waren da zwei Dinge nacheinander zu tun, zuvor musste das Telefon abgelegt und daraufhin der Schraubverschluss geöffnet werden. Wenn es zwei Dinge zu tun gibt, kommt eins schon mal zu kurz.

Hier war die rasche Befriedigung des Durstes dringender als das Ablegen des Telefons in das Ladegerät nebenan im Arbeitszimmer. Und die Sache mit dem Anruf war ja unterdessen schon längst erledigt.

 

Eine Frage der Ablenkung

Es ist immer das Aktuelle, oft auch Neue, was einen einnimmt. Selbst in einer Unterhaltung, wenn man nach der Art „dann und dann ... auch das noch" wieder mal abschweift, ist der Anfang letzten Endes schon vergessen. Dann heißt es: „Was wollte ich eigentlich noch sagen?“

Ein Kollege von mir hatte die Eigenart, um nicht Unart zu sagen, permanent vor sich hin zu reden. Er sagte alles, was er gerade dachte, selbst auch das, was er erst noch zu tun gedachte.

Wenn er über einen langen Flur einige Türen weiter zu einem Zimmer ging, waren ihm auf dem Weg dorthin schon einige Kolleginnen und Kollegen entgegenkommen, die ihn gegrüßt, vielleicht auch auf einen kurzen Schwatz, neudeutsch small talk, angesprochen hatten. Doch kurz danach, kaum dass er das besagte Zimmer betreten hatte, kehrte er schon wieder zurück und fragte mich: „Weißt Du noch, was ich sagen wollte?“

Ich wusste es, denn ich hatte es ja mitgehört. Ich bot ihm das Telefon auf meinem Schreibtisch an. Das, was ich mitbekommen hatte und ihm berichten konnte, sollte er bloß wiederholen und in direkter Verbindung, also auf ungestörtem Wege durch die Leitung sagen. So käme es sicher dort an.

 

Jenseits der durchschrittenen Tür

Die Psychologen beschreiben diese Art des Vergessens auch als „Türrahmen-Effekt“. Sobald einer einen Raum verlässt und in einen anderen eintritt, ist er von ihm und allem, was man dort mit der räumlichen Situation verbindet oder auch noch erwartet, vereinnahmt. Das andere, was man vorher tat oder noch zu tun gedachte,  geht im Nu aus dem Sinn. Und es muss nicht immer eine Flur- bzw. Zimmertür dazwischen sein, die man erst passiert, dass sowas passiert. Wie gesagt, auch eine Kühlschranktür reicht dafür aus.

Die Wahrnehmung eines anderen Raums und das Umsehen darin überlagert oft das Vorherige. Die Redensart „Aus den Augen aus dem Sinn“ mag gemeinhin zutreffen, und nicht nur für Kinder, die sich leichter ablenken, in einer quengeligen Situation auch umlenken lassen.

Die Vergesslichkeit betrifft vor allem das Kurzeitgedächtnis, unser Datenspeicher für Zwischendurch. Wie beim Computer wird er bei jedem Abschalten aus speicherplatzsparenden Gründen gelöscht, es sei denn, seine Beibehaltung wird absichtlich aktiviert.

Im wirklichen Leben ist es der große „eindrückliche Wumms", der nachhaltig hängen bleibt, d. h.  im Langzeitgedächtnis" abgelegt wird. Das bedeutet, dass die aufgenommenen Impulse in einer dafür zuständigen Hirnregion fast endlos vor sich hin „zirkulieren", bis sie ggf. mit Impulsen der Gegenwart verknüpft werden. „Frag mich nicht, was letzten Dienstag war! Aber nach dem Krieg, als ich in eurem Alter war ..."

Freilich, so ein Elefantengedächtnis" kann junge Menschen, die noch nicht so viel auf ihrer Festplatte gespeichert haben, manchmal nerven. 

 

Die begierliche Fixierung, eine Dummheit

Hier ein Beispiel dafür, wie es sich verhält, wenn das gemeine Haushuhn" eine Körnerschale vor sich sieht, von der es jedoch durch einen im Halbrund aufgestellten Maschendraht gehindert wird. Direkt auf das Futter zuzulaufen, gerade das geht geradewegs durch die Maschen nicht. Doch es ginge durchaus, so es hinten heraus noch einen Weg gibt. Der Zaun bildet, wie gesagt, ja nur ein Halbrund und ist allenfalls vorne, also nur von dieser Seite her geschlossen.

Das besagte Federvieh hat's nicht so mit dem Überblick, nicht mal aus der Vogelperspektive, da es sich, bis auf ein kurzes Aufflattern vorwiegend fußläufig fortbewegt. Sich zunächst abzuwenden, hieße für das Huhn, erst mal einen Umweg, also den entgegengesetzten Weg einzuschlagen und dabei den Napf mit dem Körnerfutter aus den Augen zu verlieren.

Gleichwohl, es dennoch zu tun, wäre intelligent". Allein, jenem Gallus domesticus fehlt es an Übersicht, so auch an Einsicht". Somit ist es im wahrsten Sinne der Worte dumm gelaufen". Sollte die Rede vom dummen Huhn" also doch zutreffen? 

 

Aus den Augen aus dem Sinn

Nicht nur etwas aus den Augen, sondern damit auch aus dem Sinn zu verlieren, das kennt auch der Mensch, der sich dünkt, in spezié ein homo sapiens zu sein. Der Verknüpfung von Gedächtnisinhalten mit räumlich vorfindlichen Gegebenheiten bedient sich die sog. Loci-Methode, eine Mnemotechnik (Gedächtniskunst), mit deren Hilfe man sich ohne großen Aufwand viel merken kann. Das Hauptziel der Methode liegt nicht in der Masse der zu merkenden Dinge, sondern in der Reihenfolge – deshalb heißt sie auch manchmal die „Routen-Methode”.

Unserem Gehirn fällt es oft schwer, sich die genaue Reihenfolge von Dingen, Begriffen oder Zahlen zu merken (Kennt einer seine International Bank Account Number, kurz IBAN, vielleicht auswendig? Das sind immerhin zwanzig Zahlen, zusätzlich die voranstehende Länderkennzeichnung durch zwei Buchstaben).

Hier mag die Loci-Methode zum Einsatz kommen. Der Leser auch mit „Kleinem Latinum“ weiß, dass sich Loci von locus (wer kennt den speziellen nicht?), also für „Ort” ableitet, und genau um ihn geht es. Es gehört zum Erbe unserer Herkunft, als unsere Ahnen noch von Ast zu Ast hangelten, mit der Folge, dass unser Hirn das, was wir wahrnehmen, vorzugsweise räumlich strukturiert. Selbst Dinge in zeitlichen Dimensionen werden mit einem Vokabular aus dem Räumlichen bedacht. (Siehe hierzu auch den Beitrag: Nachdenken über Vordenken!)

 

Geistig ablaufen

Nach der Loci-Methode soll man das, was man sich merken möchte, mit bestimmten Orten verknüpfen. Um sich die Reihenfolge dieser Dinge gut merken zu können, ist es ratsam, hierfür eine Örtlichkeit zu wählen, die man im Geiste „ablaufen” kann. Das muss also nicht unbedingt für einen Ort gelten, in dem man sich gegenwärtig aufhält. Es kann auch der gewohnheitsmäßige Weg zur Arbeit sein, der eigene Körper, die Kleidungstücke, die man gewöhnlich trägt, und alles, was nacheinander, nebeneinander, übereinander oder untereinander aufeinanderfolgt. Das einzig Wichtige hierbei ist, dass man sich alles problemlos vor seinem geistigen Auge vorstellen kann. Dabei ist in drei Schritten vorzugehen: 

  Man sollte sich den Weg, die Abfolge leicht vorstellen können und über bestimmte Punkte auf dieser Route klar sein.

● Natürlich sollte man vorab genau festlegen, an was man sich erinnern müsste. Das können Schlüsselbegriffe sein, die  anhand einer Mind-Map  zunächst herausgearbeitet wurden.

● Im letzten Schritt gilt es nun, die individuell ausgewählten Punkte mit den Dingen oder Begriffen zu verknüpfen, an die man sich erinnern möchte oder muss.

 

Eine alte Erfindung

Der Sage nach sei Simonides von Keos (um 500 v. u. Z.) auf die Idee für die Loci-Methode gekommen, als er bei einer Feier des Skopas kurzzeitig dessen Haus verlassen hatte, das während seiner Abwesenheit einstürzte. Niemand überlebte, eine Zuordnung der zermalmten Körper war äußerlich nicht mehr möglich. Simonides konnte als einziger Überlebender die unkenntlich Gewordenen identifizieren. Dabei visualisierte er die Szenerie vor dem Einsturz, um sich den jeweiligen Aufenthalt der Personen zu vergegenwärtigen. An seinem Erfolg erkannte er, dass es dem Menschen leichtfällt, in eine räumliche Verknüpfung eingefügte Informationen geordnet wiederzugeben.

 

Höchste Konzentration

Für das gedankliche Abschreiten des Parcours im Erinnerungsraum braucht es für die Rekapitulation der Objekte als Gedächtnisanker natürlich ein Höchstmaß an Konzentration. Von außen sollte nichts ablenken. 

Die auswendig dahingesprochene Sprache, wie man sie von Schauspielenden sinngebend, als seien es die eigenen Worte, aber dennoch ohne ruckelnde Bedächtigkeit erwartet, kann unbarmherzig ins Stocken geraten, wenn sich der abgespulte rote Faden vor aller Ohren verdröseln oder gar gänzlich abreißen sollte.

So ist es der Schauspielerin Ursula Herking (1912-1974) ihrem eigenen Erzählen nach einmal passiert, dass sie bei einer Aufführung völlig „aus der Rolle fiel", als sie versehentlich vom „Salzbischof von Erzburg“ schwadroniert hatte. Daraufhin bekam sie unerwartete Lacher aus dem Publikum zu hören. Umgehend war der diskrete Zuflüsterer aus dem Soufflierkasten in seiner Geistesgegenwart gefordert, um den folgenden Hänger" zu überbrücken. 

Leider gibt es den Mann, oft auch eine Frau, für solche Fälle bzw. Ausfälle nur auf dem Theater.

 

Trotz tabula rasa

Der in der vorigen, ersten Jahrhunderthälfte von Bühne und Film allseits bekannte deutsche Schauspieler Heinrich George (1893-1946), der wie oft vor Auftritten wieder mal mächtig „getankt“ hatte, soll sich eines Abends, so voll" er auch war, in einem Gefühl völliger Gedächtnisleere vor Beginn der Vorstellung zum Gehäuse des Souffleurs herabgebückt und ihn gefragt haben: „Welches Stück wird  denn heute Abend gespielt?“

Als es hinter dem Vorhang dreimal klingelte, was hieß, dass er sich jeden Augenblick heben musste, kam ihm sein Text wieder in den Sinn.

Konzentriert sein, heißt frei von allem Unnötigen, auch vor der Angst des Versagens, dass man vielleicht im nächsten Moment nur dummes Zeug stammeln könnte. In seiner Zunft, in der man das rechte Wort zur rechten Zeit erwartet, soll das eine weitverbreitete, jedoch vorübergehende Krankheit sein, die mit Lampenfieber" einhergeht.

Schauspieler lernen nicht einfach nur Text, sondern mit der Rolle, die sie spielen sollen / wollen, sie auch dem Publikum sinnhaft und glaubhaft vorzuleben. Wenn der Vorhang sich öffnet und die Scheinwerfer aufleuchten, beginnt für sie das gespielte Leben, bis dahin sattsam repetiert und eingeübt, immer wieder neu, auch wenn es vorgeblich nur das „Leben der anderen" ist, das sie nachspielen. – Die Vorstellung, wie an allen Abenden, lief beim besagten Mimen mal wieder glänzend.

 

Foto: E. Isenberg