Singen ist menschlich

 

Von Natur aus quakt der Frosch, Vögel zwitschern von den Zweigen, zur Zeit der Brunft kann man den Rothirsch röhren hören – und der Mensch? Man höre und staune, er singt. Gegenüber den irdischen Geräuschen lässt die Musik, ein Geniestreich der Schöpfung, wie zur Vorahnung das Himmlische schon jetzt und hier anklingen. In Worten zu singen, ist vor allen anderen Geschöpfen, die von sich hören lassen, einzigartig, also in dieser Art ausnehmend menschlich.

 

 Himmlische Musik

 

Es heißt, jeder kann singen – irgendwie

Man mag’s vielleicht nicht immer hören wollen. In hartnäckigen Fällen ist zu empfehlen, sich zuhause im gekachelten Kabinett einzuschließen oder nur dann zu singen, wenn man hinter geschlossenen Seitenfenstern allein im Auto sitzt. Singen tut auf jeden Fall der Sängerin, dem Sänger gut. Es erzeugt nachweislich Glückshormone und wirkt außerdem neuesten Forschungen zufolge dem geistigen Verfall im Alter entgegen.

Singen allein, solistisch gemeint, ist eine gewagte Entäußerung. Der Ton ist raus, und schon kann man es nicht mehr ändern. Mut gehört einfach zum Singen dazu. Angst und Verzagtheit benehmen den Atem. Ein zurückhaltender Gesang ist nicht nur bloß leise, sondern ein Widerspruch in sich. Die Luft muss raus. Wer sie zurückhält, kann nicht singen.

Mit seiner Stimme besitzt der Mensch ein vielseitiges Instrument. Einzigartig unter allen Instrumenten vermögen wir Töne mit Sprache zu verbinden. Es gibt gut klingende Instrumente, andere sind verstimmt, fiepen oder scheppern. Bei unserer Stimme sind’s v. a. die Hohlräume, die über den Klang entscheiden. Selbst ein „Hohlkopf“ mag ein guter Sänger sein.

 

Singen ist wie Sport

Es ist möglich, dass bei dem einen die Stimme wohltuend klingt, während sie beim anderen sich blechern oder heiser, belegt oder einfach nur unangenehm anhört. Betroffene mögen das ungerecht finden. Doch wen die Natur benachteiligt hat, muss nicht gleich resignieren. Mitunter lassen sich doch noch ungeahnte Resonanzräume erschließen. Das lässt sich erlernen. Man kann es Technik nennen.

Singen ist wie Sport, denn ohne Körperspannung an den richtigen, entscheidenden Stellen läuft nichts. Dennoch darf es nicht aussehen oder klingen, als ob es anstrengend sei. Der Zuhörer, der auch Zuschauer ist, soll sehen, dass ihm etwas angeboten wird, sichtlich gerne. Sänger singen nicht nur für die Ohren, ihre Ausstrahlung wirkt über alle Sinne und wirkt auch auf sie selbst zurück.

 

Eine Frage der Atmung

Luft ist das Medium, mit dem die Sängerin, der Sänger Klänge erzeugt. Luft ist nicht Nichts, sondern ein Gasgemisch mit vergleichsweise geringer Dichte, daher fließfähig. Unter Druck gebracht, beschleunigt sich die Luftströmung. Das kann an Engstellen zusätzlich potenziert werden (Düseneffekt). An elastisch ausgekleideten Durchtrittsstellen kommt es zum „Flattern“, das die Luft wellenartig weiterströmen lässt. Auch – aber nicht nur – geraten die elastischen Stimmbänder in Schwingung, so dass durch unterschiedliche Spannungszustände variable Schallwellen erzeugt werden können. Treffen die Luftschwingungen auf das Trommelfell der Ohren, werden jeweils über eine Verbindung (Stapes = Steigbügel) kleine Gehörknöchelchen (Malleus = Hammer und Incus = Amboss) im Mittelohr angeregt, die wiederum ihre Schwingungen auf den inneren Gehörgang übertragen. Die kurzen Wellen (hohe Toneindrücke) ebben in der Flüssigkeit auf dem langen Wege des schneckenartig gewundenen Gehörgangs eher ab als die langen Wellen (tiefe Töne). Die Nervenzellen entlang des Gehörgangs sondieren und differenzieren das Tonspektrum. Da grundsätzlich alle Wellen, ob kurz oder lang, vorne einlaufen, zeigt sich beim Alterungsprozess, dass dort die Rezeptoren am ehesten abgenutzt sind. Darum hören ältere Menschen die Obertöne nicht mehr so gut.

Von der Wahrnehmung zu den Lautäußerungen: Sie sind in der Regel kein Zufallsprodukt. Der Sänger sollte sich Töne schon vorstellen können, bevor sie gesungen sind. Dass wir Töne, ohne sie aktuell zu hören, im Kopf denken können, lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass wir Melodien oder bestimmte Tonfolgen im Gedächtnis speichern und sie jederzeit auswendig singen können.

 

Nicht so einfach, wie’s „klingt“.

So haben wir es bei unserer Lungenatmung mit einer abwechselnden Umkehrung des Luftstroms zu tun. Welche Auswirkung hat das auf unsere Stimme? Anders als beim Esel, der sein kennzeichnendes „I“ und „A“ durch das Einziehen und Ausstoßen der Luft erzeugt, beschränken wir uns beim Singen auf das Ausatmen. Da wir notwendigerweise aber immer wieder einatmen müssen, sollte man das möglichst effektiv erledigen. Wenn man langanhaltend die Luft ausstößt, so zieht man in der Regel gleich danach dieselbe Portion wieder in sich hinein. 

Die einfachste Art, Singen und Atmen in Einklang zu bringen, erfolgt durch das gedachte „Einatmen der Stimme“, was in der italienischen Belcanto-Tradition „i n h a l a r e  l a  v o c e“ heißt. Der Sänger denkt (!) sich, dass er den Gesang in sich hineinzieht. Die Stimme zu trinken und sie nicht hinauszutreiben, ist eine hilfreiche Vorstellung. Dabei bekommt man den subjektiven Eindruck, dass man einatmet, obwohl man in Wirklichkeit ausatmet. Um den Ton ansaugen zu können, muss der Singende lernen, seinen Willen, der mit dem Ton eigentlich nach außen preschen will, zurückzunehmen, ihn umzukehren. So erlebt er, dass er den Ton nicht „machen“ muss, sondern ihn von außen empfängt, ihn gewissermaßen „geschenkt" bekommt.

In Folge des ökonomischen Luftverbrauchs kann man langanhaltend singen, ohne kurzzeitig wieder einatmen zu müssen. Man sieht, wie der Bauch sich nach und nach einzieht und sich plötzlich, scheinbar wie von selbst, blitzschnell ausdehnt. Das Vorschnellen des Bauches ist der kurze Moment, in dem sich das Zwerchfell absenkt und die Lungen weiten, also objektiv Luft einsaugen. Schon kurz darauf kann man weitersingen. Die Ränder der Stimmlippen arbeiten ohne Druck und massieren sich gegenseitig. So wird man nicht heiser.

 

Anders denken

Nicht nur für „inhalare la voce“ gilt, dass der Sänger anders denkt, als er singt. So sollten sich Sängerinnen und Sänger, wenn sich die nächstfolgenden Noten auf höheren Notenlinien schon absehen lassen, die hohen Töne „unten entstanden“ denken. Die tiefen Töne bekommt man am besten, wenn man sie sich „hoch vorstellt", geradeso als würden sie über dem Kopf entstehen. Niemals, so heißt es, bei hohen Tönen, wie es einige gewohnheitsmäßig tun möchten, den Kopf anheben bzw. bei tiefen absenken.

Wer in Vorahnung der extrem hohen Töne schon Angst davor hat, wird sie garantiert auch „vergeigen“. Hohe Töne zu ersteigen – das gilt für alle Stimmen –, führt dazu, sie laut oder ungebührlich betont zu singen. Der Aufwand muss sich im Forte nicht erweisen. Tenöre in der Brusttonlage sollten je nach Klanggestaltung in die Kopfstimme übergehen.

Auch im Piano oder Pianissimo braucht es volle Körperspannung. 

 

Damit man nicht „sinkt" beim Singen

Darum sollte man bei Annäherung an absehbare Pausen bzw. am Ende des Liedes die Spannung bis zuletzt aushalten. Vor allem in Atempausen zwischendurch darf die Körperspannung nicht nachlassen, sonst setzt man automatisch den abgeflachten Ton in den nächsten Takten fort. Nach mehreren Pausen ist man dann vollends abgesunken und klingt nur noch „unter der gesanglichen Grasnarbe“ aus.

Was man auch immer sich beim Singen denkt, so mag man die Klangbildung sich vorstellen, wo man will – nur nicht im Hals. Das soll heißen, dass man den Hals nicht eng machen soll, um auf diese Weise höhere Töne zu „stemmen".

 

Das zum Thema: „Singen kann jeder – irgendwie".

Wie das Singen menschlich ist, erhebt uns auch die Lernfähigkeit, 

die uns Menschen in besonderem Maße eigen ist,

über mögliche Defizite auf diesem Gebiet.

 

T a l e n t  i s t  n i c h t  a l l e s,  a b e r  s i c h e r  n ü t z l i c h.

 

Repro: E. Isenberg, Postkarte, erworben auf einem Trödel am Naschmarkt in Wien, gedruckt um 1900, Herkunft unbekannt.