Silvis horrida

 

„In den Wäldern der Germanen, da wohnten unsere Ahnen." ... Aber mit Bananen, wie in der Operette „Glückliche Reise" von Eduard Künneke, schmissen sie hierzulande sicher nicht. Doch zwischen Bäumen – in silvis horrida, wie die Römer argwöhnten –, lebten sie ganz ohne Frage. Schlechtreden wie nach der Reprise des Liedtextes: „Wer sie wohnen sah, die Ahnen, wird ahnen, der Darwin hatte Recht“, sollte man sie dennoch nicht.

 

Schaurige Wälder?

Nun mal im Ernst: TACITUS, der es den quellengeschichtlich arbeitenden Forschern als erster schriftlich gegeben hat, dürfte an dem „urigen“ Bild maßgeblich mitgewirkt haben. Er macht keinen Hehl aus seiner Voreingenommenheit, wenn er in der „Germania“ schon zu Anfang die rhetorische Frage stellt: „Quis ... Germaniam peteret, informem terris, asperam caelo, tristem cultu aspectuque, nisi si patria sit?“, zu Deutsch: „Wer wollte schon Germanien aufsuchen, landschaftlich ohne Reiz, rau im Klima, trostlos für den Bebauer wie für den Beschauer, es müsste denn seine Heimat sein?“

An anderer Stelle gibt er uns zu verstehen: „Terra etsi aliquanto specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda … aspicit”, in der Meinung: „Das Land zeigt zwar im Einzelnen einige Unterschiede, doch im Ganzen macht es mit seinen schaurigen Wäldern und mit seinen Sümpfen einen widerwärtigen Eindruck“.

 

Nur eine Frage des Vergleichs 

Relativieren wir sein vernichtendes Urteil durch seine römische, d. h. zivilisierte Sichtweise, die ihn angesichts germanischer Wälder erschauern ließ. Im mediterranen Kulturraum war der Wald zu seiner Zeit schon auf sporadische Hainbestände reduziert, eine Folge der antiken Zivilisation, zugleich ein frühes Lehrstück von Umweltzerstörung. Dort stellt bekanntlich das sommertrockene Etesienklima härtere Bedingungen an die Erholung der Vegetation als in Mitteleuropa, wo im Einflussbereich der Westwindzone ein ausgeglichenes Klima vorherrscht. Während sich hierzulande der Wald schneller regenerierte, als damals die Hainwaldbauern ihre Rodungsinseln offenhalten konnten, degenerierten in den Mittelmeerländern die durch maßlose Abholzung entblößten Waldflächen zu baumfreien Garigues. Der permanente Verbiss durch Weidetiere erschwerte jegliche Bestandserholung und unter Einwirkung des Winterniederschlags besorgten ungehinderte Hangabschwemmungen unwiederbringliche Bodenverluste. Das Wirken des Menschen war offensichtlich.

Die üppigen Wälder Germaniens offenbarten die Anwesenheit des Menschen dagegen kaum. Nicht nur TACITUS war von dem waldstrotzenden Terrain beeindruckt, sondern auch die schon vor seiner Zeit gegen die Waldinsassen ausgerückten römischen Legionen unter einem unglücklichen Feldherrn namens VARUS hatten in diesem Gelände nicht nur die Übersicht, sondern letztlich auch eine Schlacht verloren. Die von den Römern gesuchte offene Feldschlacht entsprach einfach nicht der hiesigen Landesnatur, natural wie mental. Doch an der vermeintlichen Undurchdringlichkeit der Urwälder können die römischen Expansionsversuche nicht gescheitert sein.

 

Durchaus festen Boden unter den Füßen 

Wenn man von Mittelgebirgsverhältnissen ausgeht, so muss man sich die ursprünglichen, d.h. noch ganz naturbelassenen Wälder vorwiegend als Hallenwälder vorstellen, zumindest jene in Hanglage. Kennzeichnend für ihren Vertikalaufbau ist die fast lückenlose Kronenschließung durch hochstämmige Rotbuchen (Fagus sylvatica), die in den unteren Stockwerken allenfalls von Ihresgleichen, eben ihrem Nachwuchs unterstellt sind. Andere, v. a. lichtbedürftige Baumarten fehlen in den geschlossenen Beständen weitgehend. Überhaupt zeichnet sich die Flora unserer silikatsauren Buchenwälder durch Artenarmut aus. Der zumeist abgeschattete Boden hat wenig Unterwuchs, für den die Hainsimse charakteristisch ist. In einigen pflanzensoziologischen Subassoziationen dieser Hainsimsen-Buchenwälder wächst Sauerklee, der schon vor der Waldbelaubung blüht. In höheren Lagen trifft man auf den Siebenstern, ansonsten fleckenweise auch auf Farne und Moose.

 

 

Sauerklee (Oxalis acetosella),

Licht- und Schattenkünstler in der Bodenvegetation von Buchenwäldern.  

Die Blattspreite kann sich strecken oder auffalten und sich so auf wenig oder viel Licht (vor der Belaubung der Buchen) einstellen

 

Der Waldwanderer hat in der Regel festen Boden unter den Füßen. Nicht nur erhobenen Hauptes, selbst auf dem Pferd aufsitzend konnten unsere Altvorderen diese Wälder durchstreifen. Einzig die Steilheit des Geländes dürfte stellenweise gewisse Anforderungen an Ross und Reiter gestellt haben. Eben diese Reliefenergie der Gebirgslandschaft ist wiederum maßgeblich für die Buchendominanz mit der ihr eigentümlichen Hallenstruktur. Nach alter Försterweisheit braucht die Buche „trockene Füße und einen feuchten Kopf“. Übersetzt man Füße und Kopf mit Wurzel und Baumkrone, so trifft es die ökologischen Bedürfnisse dieser Baumart.

Die großflächige und zartblättrige Belaubung neigt zu starken Transpirationsverlusten, die allerdings in einem luftfeuchten Klima beherrschbar sind („feuchter Kopf“). Notwendig ist die Begrenzung von Wasserverlusten angesichts der geringen Toleranz gegenüber Bodennässe („trockene Füße“). In Stauwasser ersticken die Wurzeln der Buche. In der Kombination, wasserabschüssige Hanglage einerseits und regelmäßige Niederschläge und hohe Luftfeuchtigkeit andererseits bietet das Gebirge die optimalen Standortbedingungen für die Buche. In ihrem Optimum ist sie gegenüber ihrer Konkurrenz unschlagbar.

 

Wenn Blütenstaub Geschichte schreibt

Nacheiszeitlich erschien die Buche im Vergleich zu anderen Baumarten relativ spät in den heimischen Wäldern. Über die Analyse von Pollen (Blütenstaub) ist ihre Anwesenheit ab etwa 2000 v. u. Z. wahrnehmbar. Wie bei den meisten Pollen bleiben die äußeren Hüllen – vom lebenden Inhalt längst entleert – auch nach mehreren tausend Jahren in ihrer artspezifischen Struktur erhalten.

Exine eines Pollens der Rotbuche (Fagus sylvatica)

Kennzeichen ist die tricolporate Struktur,

heißt drei Falten, darin jeweils Poren für den Austritt des Keimschlauchs

  

Im Torf, wenn er im Laufe der Zeit zum Hochmoor aufgeschichtet ist, findet man den jährlich eingewehten Blütenstaub auf natürliche Weise in einer kontinuierlichen Zeitfolge archiviert. Die Altersbestimmung der Torfschichten ist heute durch Radiokarbondatierung möglich. Die nacheiszeitliche Massenausbreitung der Buche zeigt sich pollenanalytisch seit dem Atlantikum. Das für diese Epoche kennzeichnende Klima war eine Folge der bis dahin fortgeschrittenen Eisabschmelzung in der vorausgegangenen borealen Wärmephase, wodurch der Meeresspiegel angestiegen und die Meerestransgression soweit vorgedrungen war, dass sich auch im Binnenland die Einflüsse maritimer Nähe in erhöhter Luftfeuchtigkeit und vermehrtem Regen niederschlugen. Genau das brauchte die Buche. Wenn dann noch die Boden- und Reliefverhältnisse nach Art der Mittelgebirge stimmten, war es nur eine Frage der Zeit, dass die Buche waldbeherrschend wurde. Da sie gegenüber dem Lichtfaktor eine vergleichsweise große ökologische Toleranz aufweist, kann sie sich unter dem abschattenden Kronendach des Altbestandes selbst verjüngen. Die meisten anderen Baumarten haben jedoch keine Chance. Somit gelangt sie bei den gegebenen äußeren Rahmenbedingungen zur Dominanz und bildet jenen so typischen Schattendom bzw. passierbaren Hallenwald. Also durchaus passabel, das heißt, so hinterwäldlerisch waren unsere Ahnen auch wieder nicht.

Gewiss ließ sich mit einem Füllhorn Met manch Schauriges schön saufen". Aber hinaus auf die Lichtung zu treten und im Licht betrachtet, die römische Kultur und den Komfort der Zivilisation, die sich ihnen jenseits des Rheines darbot, zu vernehmen und letzthin auch zu übernehmen, waren Herrlichkeiten, die Begehrlichkeiten auch bei den letzten „Wilden" in den Wäldern weckten. 

 

Ausschnitt von dem Liedtext aus Eduard Künnekes Operette Glückliche Reise" (1932), Text Max Bertuch, Kurt Schwabach:  

Am Amzonas, da wohnen unsere Ahnen / und schmeißen mit Bananen / wie's ihnen grad gefällt /

Sie haben ungern mit uns etwas zu schaffen / und halten uns für Affen / aus einer andren Welt. / 

Sie halten uns für dumm und schlecht / und ihre Wut auf uns ist echt/

Am Amazonas, da wohnen unsere Ahnen/ und wer sie sieht, wird ahnen / der Darwin hatte Recht!

 

Fotos E. Isenberg  

Ein tricolporaterBuchenpollen: E. Isenberg, Kleiner Pollenatlas zur Bestimmung der häufigsten Pollen in nordwestdeutschen Torfen, Münster 1974