Na gut, dann nennen wir ihn einfach Mumpitz

 

Unter den Handfiguren meines Kinder-Kasperle-Theaters befand sich ein kopfloses Wesen. Wenn ich nach dem üblichen Tri-Tra-Trullala den Torso vom Spielrand, genauer gesagt, von Rechtsaußen auftreten ließ – als Rechtshänder meine bevorzugte Richtung zur Eröffnung einer Hand"-lung – , wurde im Publikum die Frage laut: „Ach? Wer kommt denn da?“

Außer dem Kopf fehlten dem scheinbar schwebenden Wesen auch die Beine. Nun wären sie sowieso hinter dem unteren Bühnenrahmen verdeckt geblieben. Immerhin dank meiner eingeschobenen Finger bewegten sich zwei kurze Arme, von dem ich einen zum Gruß erhob.

Der ominöse Akteur bzw. ich, der dahintersteckte, nahm den Dialog mit dem Publikum auf. „Ja, was fragt ihr da? Das seht ihr doch!“ – „Was sollen wir sehen?" fragten sie, man sieht doch gar nichts.“ 

„Ach ja? Wirklich? Also gar nichts? Ihr meint wohl, man erkennt nichts. Ja, sollte es denn sein, dass ihr mich nicht wiederkennt? Ich bin doch der „alte Nazi“.

Betretene Stille machte sich im Publikum breit

Ja was, und den kennt ihr nicht? – Ich weiß, ihr wisst, wenn man nach ihm fragt, bekommt man ihn nie zu Gesicht. Deshalb, wie ihr seht – oder auch eben nicht seht, fehlt es mir daran“.

„Ach", kam es von den Erwachsenen, spiel lieber was lustiges!“ Ich hatte wohl den Ernst der Lage verkannt. Offenbar taugte der „alte Nazi“ nicht für ein Lustspiel. Schließlich war damals manch „alter Nazi“ noch jünger. Ich nahm die Figur für seine unrühmliche Rolle nur noch dann zur Hand, wenn ausnahmslos Kinder vor der Bühne saßen, zählten sie doch dank ihrer späten Geburt", wie auch ich selbst, zu den damals beneideten, heißt „begnadeten", da ahnungslosen Kindern".*

Meine Figuren legte ich nach der Vorstellung gewöhnlich in einer hölzernen Spielzeugkiste ab. Wenn ich die obere Klappe zumachte, konnte man darauf sitzen. So ließ sich schnell Ordnung schaffen. Durch Draufsitzen war das leidige Aufräumen im Nu ausgesessen. Doch mitunter knirschte es unter der Klappe. Beim nächsten Öffnen ließ sich dann der Schaden besehen. So hatte die Figur, die bis dahin den Wachtmeister verkörperte", einen Trümmerbruch erlitten. Dessen Gipskopf rieselte bröckchenweise hinten aus seiner Mantelklappe heraus, in die man gewöhnlich die Hand hineinschob, um mit der Figur aufrecht zu agieren. Nunmehr stakste oben aus dem Hals, an dessen Stelle sich nur noch ein Loch befand, mein nackter Zeigefinger hervor. Fortan nannte ich den Torso den „alten Nazi“, den ja keiner, wie ich erfahren musste, kannte oder kennen wollte.

Die noch nicht so alten Nazis, die in jener Nachkriegszeit noch reichlich vorhanden waren, gaben sich tunlichst nicht zu erkennen. Die verordnete Umerziehung zu Demokraten kam nur langsam in Gang, zumal sich nach der Diktatur des Faschismus auch nicht so schnell ein anderes Volk backen" ließ.

Irgendwie schien der „Nazi“ eine tragische Figur zu sein und machte dort, wo von ihm die Rede war, immer nur Ärger. So auch ein andermal, als ich auf dem Weg zur Schule war. Wir Kinder wurden angehalten. „Halt, ihr da! Keinen Schritt weiter! Gleich wird der Hochbunker gesprengt.“

Gerne blieben wir stehen, zumal durch höhere Gewalt uns der Gang zur Schule verwehrt wurde. Ein interessantes Ereignis am frühen Morgen. „Klasse!“, fanden wir, dass wir nicht in unsere Klasse durften.

Schon rief der Sprengmeister: „Ohren zuhalten! Mund auf!" – Noch einmal in sein Horn getutet: Drei, zwei, eins, Zündung!“  und … Wumms!" – Fantastisch! So musste es im Krieg gewesen sein. Und die Trümmer glichen denen, die wir Nachkriegskinder auch so allerorten noch herumliegen sahen.

Als der Staub sich gesetzt hatte, sahen wir an den Armierungseisen der Betonbrocken noch einen lumperten, inhaltsleeren Mantel hängen. Sollte da noch einer im Bunker gewesen sein? Ein „alter Nazi“ womöglich, der dort vergeblich auf den „Endsieg“ gewartet hatte?

Wir befanden, dass sich Schule an diesem Morgen nicht mehr lohne, was allerdings anderntags unser Lehrer ganz anders sah, mit der Folge, dass wir eine Strafarbeit „aufgebrummt“ bekamen. Mindestens über eine ganze Seite sollten wir von dem Ereignis berichten. Ich empfand es gar nicht mal als Strafe, zumal sich das Erlebnis fantasievoll ausspinnen ließ. Fantasie besaß ich mehr, als es der Realität guttat.

Als ich in meinem Aufsatz den aufgespießten alten Mantel dem „alten Nazi“ zuordnete, hatte der Lehrer, der hinsichtlich seines Alters und seiner damals noch jüngst zurückliegenden Vergangenheit vermutlich auch nicht unverdächtig war, am Rande meines Schriebs die niederschmetternde Bemerkung (= Ausdruck) – Das ist doch Mumpitz! hinzugesetzt

Aha, das war also nicht der „alte Nazi“, sondern, jetzt hatte ich's schriftlich und zwar rot auf weiß, der Mumpitz. Wie mir schwante, umgab den neuen Namen ein Hauch von Unsinn. Hiernach hieß auch bei meinen Handpuppen der sinn- wie kopflose Charakter nur noch der Mumpitz.

Oh ja, so trat er dann auch auf: Tri-Tra-Trulla-la, denn seht, der Mumpitz ist stattdessen da“. Wer wollte an ihm Anstoß nehmen? Über ihn durfte gelacht werden, ohne dass sich die Erwachsenen zieren oder gar genieren mussten. 

 

* Die Gnade der späten Geburt ist ein von Bundeskanzler Helmut Kohl in den Jahren 1983/1984 geprägter Ausspruch, der zum Ausdruck bringen sollte, dass die Deutschen, die nach 1930 geboren wurden, im Nationalsozialismus, da sie derzeit noch minderjährig waren, keine Schuld treffen konnte.

** Mit dem Wort Mumpitz blaffte gerne der langjährige SPD-Parteivorsitzende Herbert Wehner (1906-1990) Journalisten an, die ihm unangenehme Fragen gestellt hatten.