À propos Poesie oder August von Goethe, der Sohn vom großen Genie.

 

Wie Johann Wolfgang von Goethe, so auch sein Sohn? Hatte das Genie einen Sohn? Wer war das? Muss man ihn kennen? Sollte er, wenn man schon nach ihm fragt, bedeutungslos und demnach nicht weiterer Rede wert sein? Die Rede ist hier von August von Goethe (1789–1830), dem Friedrich Schlegel ins Poesiealbum schrieb: „DES THEUREN ZÜGE TRAGEND, ERBE SEINEN GEIST!" 

 

Goethes Sohn August

 

Zu einfach zu glauben, Vaters Geist vererbe sich auch auf den Sohn. In der Tat, was sein Äußeres betraf – vom Geist war nicht die Rede – sagten die meisten, die dem jungen August vom/von Goethe begegneten: „Ganz der Vater!“ Vor allem bei dem umwerfenden Blick aus großen, tiefgründigen Augen, wer dachte da nicht gleich an Goethe? Gleichwohl sollte es noch sieben Jahre dauern, bis auch sein Sohn sich amtlich" Goethe nennen durfte.

Manchmal, wie es schon vorgekommen sein soll, lässt ein seltener, aber nicht unmöglicher Umstand, womöglich heftiger Natur, verdeckte Gene, vielleicht auch die eines genialen Vaters zum Vorschein gelangen.

Seine Mutter – sie hatte „naturgemäß" ihre Gene ebenfalls in die Linie eingekreuzt – war Christiane Vulpius, zunächst Putzmacherin in einer Weimarer Manufaktur. Sie fabrizierte dort künstliche Blumen, die sich Damen der feinen Gesellschaft an den Hut stecken konnten. 

Im Sommer 1788 entwickelte sich zwischen Goethe und Christiane ein leidenschaftliches Liebesverhältnis. Ende Dezember 1789 folgte die Geburt des ersten Kindes, das sie nach dem Dienstherrn und Gönner Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, August nannten. Der Herzog hatte bereits 1782 für seinen hochverehrten Geheimrat die Verleihung des erblichen Adelsdiploms beantragt, so dass er sich fortan Johann Wolfgang „von" Goethe nennen durfte.

 

 

 

Goethes Hausgarten

mit Mutter Christiane Vulpius und ihrem damals vierjährigen Sohn August

 

In den gesellschaftlichen Kreisen, vor allem unter den „Giftspritzen“ seiner noblen Verehrerinnen, war Christiane lange Zeit immer nur die „Mademoiselle Vulpia". Erst 1806 ließ sich das Paar aus unterschiedlichem Stand abseits in der Sakristei der Weimarer Jakobskirche trauen. Daraufhin konnte auch sie sich als die Ehefrau von Goethe „von" Goethe nennen.

Aus der Ehe gingen noch weitere vier Kinder hervor, deren Leben endete, kaum dass es begonnen hatte. Nur der besagte Erstgeborene überlebte. Die nachgeborenen Geschwister starben schon vor oder kurz nach der Geburt. Womöglich war die Ehe der Eltern „rhesus-unverträglich". Hierfür ist, wie wir heute wissen, eine Genkombination* verantwortlich, bei der es durch Antikörper, die sich nach einem ersten Kind im mütterlichen Blut gebildet haben, beim nächstfolgenden Neugeborenen zum Morbus haemolyticus neonatorum kommen kann. Dabei lösen sich nach und nach die Blutzellen auf. So blieb der voreheliche, erstgeborene August der einzige Spross.

Jener avancierte später am Weimarer Hof dank des väterlichen „Vitamin B“ vom Hofjunker zum Kammerrat. Unter den Hofschranzen des Herzogs durfte er sich letzthin sogar als Geheimer Kammerherr titulieren lassen. 

Vom „studierten" Juristen – er besuchte nur ein Jahr, nämlich von 1808 bis 1809 die Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg – sind nur wenige lyrische Ergüsse überliefert. Einige brave Verse, gleichwohl sie einen Anflug von Widerborstigkeit erahnen lassen, die nachmals seine Gattin Ottilie von Pogwisch posthum in Druck gab, lauten bezeichnenderweise: 

 

Ich will nicht mehr am Gängelbande / wie sonst geleitet seyn

und lieber an des Abgrunds Rande / von jeder Fessel mich befrein. 

Und ist auch sich‘rer Sturz bereitet, / ich weiche nicht vom schmalsten Pfad,

um Rechtthun mancher wird beneidet, / wohl ist dies die schönste Tat …

 

Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass sich der Autor dieses Beitrags, wenn seine Wahl auf August von Goethe gefallen ist, in den Freiräumen des Faktischen spekulative Ergänzungen erlaubt. Erfunden, wie im Folgenden die Dialoge, Augusts Reimanfälle, die wie ein Atavismus* – sollte er doch vom Vater die Poesie in den Genen haben? – schlagartig einsetzten. Und auch das Drumherum des gesamten finalen Fiaskos, ist die fiktive Ersetzung dessen, was die Handelnden der letzten Tage und Stunden, so malade sie schon waren, nicht mehr selbst notieren konnten. Demnach sind es Geschichten, wie sie das Leben en détail, nicht schrieb.

Nun kann das Leben von sich aus auch nicht schreiben, allenfalls den Stoff liefern. Romane leben davon. Was der Autor posthum verfasst hat, ist also nicht im Wortlaut verbürgt. Biographen, die nur gelten lassen, was zitierbar ist, also schriftlich nach dem Hörensagen von Zeitgenossen fixiert wurde, mögen im Hinblick auf nicht benennbare Augenzeugen bitte ein Auge zudrücken! Dennoch hofft er mit der freizügigen, freilich fiktionalen Schilderung der „Banalitäten", wie man sie doch oft als „Realitäten" eines gelebten Lebens kennt, dem Verständnis der Person und ihres tragischen Endes näher zu kommen. Geschichten als Momentaufnahmen sind im Kleinen oft, was die Geschichte im Großen und Ganzen besser verstehen lässt.

Selbst wenn noch weitere Nachrichten hinterblieben sein sollten, dürften sie hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes oftmals nachträglich durch wohlwollende Einordnungen und Kommentierungen der Zeitzeugen, dem Vater und der Nachwelt zuliebe, geschönt worden sein. Nicht alles, was man schriftlich hat, ist schon deshalb wahr. Wer sich im Nebel wähnt, muss notgedrungen versuchen, sich von der Lage „ein Bild zu machen". Ein wenig überzeichnet, wenn es sonst verschwommen ist, darf es, denk ich, durchaus sein.

Notabene: Worüber schrieb damals Vater Goethe doch gleich? Er nannte es: „Dichtung und Wahrheit“. Um ihn hierzu mit seinen eigenen Worten zu zitieren: „Was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte Dichtung begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewusst war, zu meinem Zweck bedienen zu können.“ 

Sein Projekt war eine Autobiographie, in der er den Fortschritt seines Weltverstehens erinnert und wortreich (vier Bände), so wie er sich „zu seinem Zwecke" der Wahrheit bedient, selbst inszeniert.

 

 

 

Klassisch inszeniert: Goethe in Italien. 

Nach einer Skizze 1786/87 von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein gemalt.

Was Goethes Bein betrifft, so scheint er am rechten einen linken Fuß gehabt zu haben.

 

Zunächst noch zum Faktischen: Wo schon der „Herr Vater“ auf seiner Italienreise (1786-88) in Elegien schwelgte, mochte sich jenseits der Alpen, wo die Schatten im Vergleich zum Norden kürzer sind, auch der Sohn erwärmen lassen. 

Für ihn, seiner „Weimarer Mansardenexistenz" überdrüssig, ging es im April 1830 via Frankfurt weiter nach Italien, zunächst in Richtung Mailand.

Auf der langen Kutschfahrt, der weitesten seines Lebens, wird er „ungeheuer zusammengerumpelt“, wie er zu Beginn der Reise schreibt, so dass er zunächst einmal paar Tage Ruhe einlegen musste, „um einige wundgesessene Druckstellen zu heilen“. Seine sonstigen Eindrücke hält er in einem Reisetagebuch fest. Er registriert nicht nur, er beschreibt auch seine Empfindungen, beobachtet Land und Leute und ihre Gewohnheiten. Es geht ihm, wie es Italien-Reisenden aus dem Norden schon zu allen Zeiten ergangen sein muss, er schwärmt geradezu von dem, was er dort zu sehen bekommt. Überschwänglich schreibt er: „Es ist gar zu herrlich hier und man fängt nun nach dem ersten Staunen an zu genießen.“ 

Jedoch nach einiger Zeit scheint ihn das Gesehene nicht nur zu erheben, denn die ganze Überfülle und Pracht wird ihn bald erdrücken. So will er letztens nur bemerken, „dass ich da war, mündlich mehr davon“.

Es war seine erste, jedoch auch letzte weite Reise. Sie fand auf einem Friedhof in Rom ihren Abschluss. Die Örtlichkeit legt nahe, dass es ein tragischer, tödlicher gewesen sein muss.  

Vorab der Anfang vom Ende: Es geschah bei einem Zwischenhalt im ligurischen La Spezia, am Golfo dei Poeti. Den Kutscher quälten schon die Lippenbläschen infolge der „römischen Allergien“. Diese mögen literarisch Bewanderte nicht zufällig mit den „Römischen Elegien“ in Verbindung bringen, eine Sammlung von Gedichten, die Johann Wolfgang von Goethe einige Jahre nach der Rückkehr von seiner Italienischen Reise im Jahre 1790 unter „Erotica Romana“ herausgeben wollte. Darin heißt es unter anderen Anzüglichkeiten: „ ... So wie der Freund es gelöst, fällt dein wollenes Kleidchen faltig zum Boden hinab […] .wenn ich des lieblichen Busens Formen spähte, so leite die Hand auch die Hüfte hinab." […]

Mit Zeilen wie diesen lotete Goethe die damals vorherrschenden Grenzen des guten Geschmacks aus. Waren die veröffentlichten noch gerade jugendfrei, wurden hingegen vier andere Elegien erst gar nicht gedruckt. Goethe hielt sie zurück, da sie bezüglich seiner Liebesabenteuer als zu anzüglich bewertet wurden. 1795 wurden die schlüpfrigen Verse vorab in Schillers Monatsschrift „Die Horen“ veröffentlicht. Johann Gottfried Herder sah sich aufgrund der erotischen Freizügigkeit der Gedichte zu der bissigen Bemerkung veranlasst, die „Horen“ müssten nun mit einem „u“ gedruckt werden. 1800 wurden sie aber dann doch unter dem Titel: „Römische Elegien“ ediert.

Nunmehr, um auf Augusts Italienreise zurückzukommen, hatte besagter Kutscher auf Rat eines der Schankweiber in der Absteige, die sie zur Nächtigung aufgesucht hatten, sein Gemächte mit hochprozentigem Branntwein eingerieben. So ein Wirtshausluder, das einen Gast gegen Entgelt auch mal fix ans Fleisch ließ, wusste nämlich, schon im eigenen Interesse, was als Vorbeugung half. So schmerzhaft, wie es war, wirkte es demnach. Nach der Abreibung war dem besagten Kutscher allerdings jegliche Regung, der Fleischeslust nachzukommen, vergangen, so dass er, wie gewohnt, doch wieder auf die innere Anwendung des Branntweins zurückgriff.

Wie es damals viele seiner strapazierten Berufsgenossen hielten, die über Tag in ständiger Anspannung ihre eingespannten Zugpferde zügeln mussten, gönnte auch er sich am Feierabend zur Entspannung gern mal Stunden der „Zügellosigkeit". Doch anders als sein Kollege und Zechkumpane, ein Italiener, der Ernesto (wie der deutsche Ernst) genannt werden wollte, zog er sich rechtzeitig zurück, denn alsbald hatte er „im vollen Ernst" vor Augen, was abzusehen ist, wenn man sich, wie jener, über seinen persönlichen Eichstrich hinaus abfüllen lässt. Schließlich war er im Dienst, denn am anderen Tag sollte die Reise mit Herrn Goethe Junior fortgesetzt werden. Nur auf die Nüchternheit des Zugpferdes zu setzen, war allein nicht zielführend.

August, sein touristischer Fahrgast, der in der Schankstube bis nach Mitternacht maßlos gepichelt hatte, kam anderntags, als es um den Einstieg in die Kutsche ging, nur unter Mithilfe in Gang. Der reichlich konsumierte Wein, der nicht nur wegen des Restzuckers ausgesprochen süß und süffig schmeckte, hatte ihm gut gemundet. Da der vergorene Anteil auch höherprozentig war, erwies sich der Wein, wie gemeinhin im Süden, als weit wirkmächtiger als die schlichten Säuerlinge daheim.

Nebenbei gesagt, auch Vater Goethe soll einen übermächtigen Hang zum Alkohol gehabt haben, ein Spiegeltrinker, der aber sein Tagesquantum einstecken konnte. Selbstbezogen wie er war, neigte er zur Hypochondrie, was ihn allerdings keineswegs an seiner Langlebigkeit hinderte. Er wurde 82 Jahre alt, hoch betagt für damalige Verhältnisse, als man zur Desinfektion noch glaubte, ständig Wein trinken zu müssen, um nicht auf das elende Wasser aus den anderweitig genutzten und verschmutzten Gewässern angewiesen zu sein. Er überlebte seine Frau, die im zehnten Ehejahr starb, um 16 Jahre, selbst den besagten Sohn, der vierzigjährig sterben wird, um zwei Jahre.

Nun auch August im Delirium? Sollte das Vererbung sein? Was den Geheimrat mitunter beflügelt haben mochte, der spirituos und dennoch virtuos in diesem Zustand fabulieren und Verse schmieden konnte, hatte bei seinem Sohn August, der nur mit Nachdruck in die Kutsche aufwärts stolpern konnte, zur Fortsetzung seines komatösen Rauschzustands geführt. Kaum saß er in den Polstern, schon war er wieder eingeschlafen. Er merkte nicht, dass das Gefährt diesmal über Stunden erst gar nicht losgefahren war.

„Ein seltener," wie der bereits besagte Umstand „heftiger, aber nicht unmöglicher Natur" trat im Laufe des Vormittags ein, so August ein gemeines Leibschneiden befiel. Wegen seines gestörten Darmbiotops – bestimmt war es wieder mal die brodelnde Nachgärung des süßen Weins – weckten ihn gegen elf Uhr verstörende Leibwinde. Merkwürdig, die Kutsche ruckelte gar nicht. August rief von innen durch den Sehschlitz hinter dem Kutschbock. „Was jetzt? Warum sitzt da keiner?“ Als er die Tür öffnete, sah er den Kutscher erst noch kommen und grantelte: „Will Er nicht bald fahren lassen?“

„Tja, gnädiger Herr, ohne ein Zugpferd“, er zog es am Zaumzeug noch hinter sich her, „geht‘s nicht weiter. Ich musste heute Morgen, bevor ich's einspannen konnte, erst in den Ort zur Schmiede, denn dem Gaul sein Huf war lose.“

„Dem Gaul sein Huf ???" August von Goethe echauffierte sich und belehrte den unbedarften Wagenlenker, es müsse natürlich – Genitivus possessivus! d é s Gau l é s Huf heißen.

So natürlich war das für den Kutscher nicht, zumal er weder dés Lateinischen, noch dés Deutschen in allen grammatischen Wendungen mächtig war. Der Gescholtene langte sich ans Hirn und dachte, dem Herrn, der als notorischer Besserwisser ständig glaubte „Korinthen kacken" zu müssen und groß darin war, sich kleinlich zu geben, müsse es wohl wieder besser gehen. Überhaupt war dem schlichten Mann „der Genetiv nicht sein Fall", schon gar nicht der unsägliche „possessivus". So sprach er auch, wenn er nach seinem Fahrgast gefragt wurde, stets von „dem Goethe sein' August“, frei nach dem Motto „der Dativ ist dem Genitiv sein Tod".

Doch August ging es gar nicht gut. Während das Pferd angespannt wurde, blieb er in der offenen Tür stehen und atmete tief durch. So plümerant, wie er sich immer noch fühlte, schwante ihm, dass es heute nicht sein Tag werden wird. Recht sollte er bekommen.

Er hatte halbdraußen die frische Luft eingeatmet, aber nicht mitbekommen, dass das Kutschpferd unterdessen eingespannt worden war. Es ruckte im Geschirr. Im gleichen Moment schlug die Tür der Kutsche zu. Da er noch in ihr stand, traf sie ihn schlagartig. So sie wegen ihm nicht ins Schloss fallen konnte, sprang sie auch wieder auf, und er, den es arg getroffen hatte, fiel nach vorne heraus.

Der Kutscher, der sich anschickte, das niedergegangene Elend auf dem Straßenpflaster aufzulesen, rief zur Schenke hinüber, man solle ihm Branntwein herausbringen. Er kannte ja schon die Prozedur und es würde sicherlich auch den Wundmalen seiner Herrschaft guttun. Es tat, wie's der Herr akustisch kundtat, höllisch weh. Der Kutscher bedeutete ihm: „Nicht wahr, sie merken, dass es wirkt?“ 

Merkwürdig war nur, dass sich der hinfällige Fahrgast, nachdem er ihn mit Mühen wieder aufgerichtet hatte, fortwährend an die linke Schulter fasste, als habe nicht nur sein edles Antlitz, sondern auch sein Knochengefüge Schaden erlitten. Schließlich schob ihn der Kutscher behutsam in das Gefährt und legte ihn dort der Länge nach auf die Polster. Unübersehbar schwoll an Herrn Goethens hoher Stirn eine Beule zu einem Einhorn heran, zunächst gebläut und dann grünlich gelb. Indessen trällerte der Pferdelenker auf dem Kutschbock sitzend und mit „dés Gaulés" Huf wieder in Gang bzw. in Fahrt gekommen: 

„Oh la la / Arkadia! 

Land der Glückseligkeit!

Lass uns durch die Fluren schweifen 

und in Freuden dorthin ziehn, / 

wo die Zitronenbäume blühn 

und zur Sommerzeit

leuchtend gelb die Früchte reifen!“

 

 

 

August, der es nur noch dumpf und von Ferne mitgehört hatte, war – nicht nur der Zitronen wegen – ziemlich sauer. Hatte daheim nicht auch schon mal sein „alter Herr" von so einem glückseligen „Garten Eden" geschwafelt?

 

 „Kennst du das Land, wo die Citronen blühn? / Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn.

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, / die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

kennst du es wohl? Dahin! Dahin / ..." 

 

 

Oh ja, dahin ... , wie sein wieder mal versagendes Gedächtnis, das ihn daran hinderte, die Lyrik in den geschmeidigen Worten seines Vaters fortzusetzen. Während sie hingegen die Fahrt fortsetzten, rüttelte und schüttelte es unablässig in dem Gefährt, trotz Federung und Polsterung. Infolgedessen mochte der Fahrgast auch schon glauben, dass sich seine Nervenverbindungen gelockert haben müssten.

Gleichwohl machte er vorerst keine Anstalten, seine verworrenen Gedanken zu ordnen. Vielleicht mochte er – in Vorwegnahme späterer Erkenntnisse neuerer Neurologie – darauf spekulieren, dass sich im kohärenten „Pudding" seiner Gehirnmasse die gelösten Schaltstellen, Synapsen wird man sie nennen, von alleine wieder vernetzen werden, mit dem Ergebnis spontaner Kontakte und neuer, ganz ungewohnter Denkstrukturen. Wie schon gesagt, „ein nicht unmöglicher Umstand heftiger Natur", der den Getroffenen womöglich im Nachhinein in den Zustand eines genialen Poeten versetzen könnte.

Zunächst aber – und das zum Thema „Denkstrukturen" – verharrte August von Goethe noch eine längere Weile im Zustand unstrukturierten Denkens. Er blieb in der Kutsche sitzen und ließ über Mittag weiterfahren. Für ein Mittagsmahl fühlte er in sich keinen Platz. Er hatte eher das Gefühl, stattdessen platzen zu müssen.

So wie die Chaise durch das nächste Schlagloch rumste, krachte es auch bei ihm, wenn er, wie auf jeden nächsten Schlag, seine angestauten Blähungen abließ. Doch, was daraufhin in der Luft lag, war eben nur schlechte Luft und nicht wirklich eine substanzielle Lösung seines Problems. Bald wusste er nicht mehr, wo es raus wollte, was besser raus sollte. Auch oben heraus erschien als Ausweg nicht mal abwegig.

Nach qualvollen Stunden klopfte er mit dem Knauf seines Flanierstocks unter das Dach des Coupés, was hieß, der Kutscher solle nun aber umgehend anhalten. Es war so weit und drängte ihn hinaus. Schnurstracks ging er auf ein Haus zu, dessen Tür offenstand, was nicht bedeuten musste, dass es ein öffentliches Haus war. Der Kutscher sah nur, dass er für eine kurze Zeit darin verschwand. Als er wieder herauskam, sah er noch verhauener aus, als er es eh schon war. Und auch das, von dem er sich offenbar befreien wollte, füllte „offensichtlich" seine Beinkleider. Praktischerweise waren es Bundhosen, die einen weiteren Abgang verhinderten.

August von Goethe sprach klammen Maules vor sich hin: „Schon heute Morgen glaubte ich zu wissen, ein Tag wie heute, endet noch …“ – Schon ergänzte der Kutscher und sprach aus, was sich zwanghaft reimen musste. 

Was mit dem angebahnten Reim überraschend aufgeblitzt war, ließ für den Moment, bei aller Banalität, wie einen Kometen den neuen Poeten am Dichterhimmel aufgehen. Denn vom Sohne, im besten Falle seines Vaters Epigone, hörte man in ungeahnter Spontaneität, wie er anhob, fortan in gereimter Sprache zu rezitieren. An den Kutscher gewandt, sagte er: „Wenn Er mich fragt, ich sage, ach, mich traf erneut ein Ungemach. Befördert durch des Darmes Grimmen tat ich im Treppenhaus die Stufen rasch erklimmen und glaubte, angekommen auf der halben Stiege, dass ich mein Bedürfnis, das mich antrieb, noch zur rechten Zeit geregelt kriege. Eine Türe ließ mich hoffen, zumal ich sah, sie stand ein Stück weit offen. Da angesichts der Not ich‘s mir erlaubte, weil ich dort den Abtritt glaubte, trat ich raschen Schrittes ein. Doch sollte das hier, meine Frage, auf halbem Absatz zur Etage nur eine Abstellkammer sein? Und flugs, wie wär‘ es anders auch gewesen, schon trat ich dort auf einen Besen. Der Stiel, er schlug mir vor die Stirne, so dass es wieder waberte im Hirne. Nun sah ich nicht wie nur im Dunkeln, nein, auch am Tag die Sterne funkeln. Und ohne Frage, mit erneutem Schlage hätt' es mich fast umgeschmissen. Auch anderwärts, da ich‘s schon wusste, dass ich dringend „müssen" musste, fand ich meinen Zustand nur …“ Und gleich wieder sekundierte der Kutscher mit der bereits vorhin erprobten Reimentsprechung.

Nein, im Ganzen war es nicht der Tag des Herrn. Als sie schließlich weiterfuhren, mahnte ihn der Kutscher, während der Fahrt stehen zu bleiben und sich der vollen Hose wegen nicht auf die Polster zu setzen.

August schleuderte hin und her und fand nicht mal an den Türen Halt, deren Fensterscheiben, wegen „dem ... (?) – nein, dés  Gestankés wegen" auf beiden Seiten heruntergelassen waren, was für ihn hieß, bei jedem heftigen Schwanken ins Leere zu greifen. Er musste sich schon an der Kabinendecke festkrallen. Nach ständigem Hin und Her war es unterdessen Abend geworden. 

Am nächsten Gasthaus wurde angehalten. Am Wirtsraum ging er rasch vorbei. Dass er ihn links liegen ließ, das hieß, dass er das Zechen vor dem Nachtschlaf diesen Abend besser ließ. Schnellen Schrittes eilte er zum Treppenhaus. Zudem war seine Hose voll. Das sah nicht nur so aus, auch roch es grauenvoll. Nein, so ein Jammer! Drum ging's treppauf mit ihm gleich hoch ins Dachgeschoss, wo er schnell in einer freien Kammer hinter sich die Tür verschloss. 

Doch ach, schon auf dem Weg, als er nach oben schlich, war ihm aufgefallen, alles, was er sprach, vielleicht nur dachte, reimte sich. Und sprach zu sich: „Ach, du meine Goethe! Ich ein Poet, gar ein Genie? Das wundert mich. Ein solches, wie der Vater sagte, war und würde ich wohl nie. Wie auch er sich selbst beklagte, ließen sich bei ihm die Reime nur mit Mühen aus der Nase ziehen. 

Aber jetzt, was hör ich hier? Bei meiner Sprache denkt man fast, was du gereimt geredet hast, dass nun doch ein Dichter spricht aus mir. Es klingt schon schön, wenn‘s mit den Worten passt und sich in ihrem Gleichlaut Silben immer wieder widerspiegeln, so es sich im Redefluss doch  jedes Mal am Zeilenende reimen muss.“

Im Schlafraum oben angekommen, sagte er: „Oh weh! Was erkenn ich da, wenn ich im Spiegel überm Lavoir vis à vis mein Antlitz seh? Um Himmelswillen, nein! Die Beulenpest, das fehlte noch. Die Syphilis? Hab ich sie doch? Oder könnten es die Pocken sein? Die Mücken gar und in der Folge ihrer Stiche die Malaria? Oder wär' mir Scharlach, angezeigt durch Frieselfieber, vielleicht stattdessen lieber? Egal, mir würde es, wer weiß, allein bei dem Gedanken, was sonst noch alles möglich wäre, jetzt schon heiß.“ 

Gleichwohl, war er's nicht doch, so seine Diagnose, der ob des Inhalts seiner Hose jetzt schon nach Verwesung roch? Hatte er sich ihrer rasch entledigt, wollte er sobald wie möglich wieder dichter sein. Was das betraf, beim Worte „dichter" fiel ihm ein, ein Dichter könne er ja doch, wie er fortwährend sprach, tatsächlich sein.

Wie es auch sei und wie man’s nennen mag, mit einem Schlag – oder waren es schon deren zwei? – war das Reimen, wie’s der Dichter kennt, auf einmal und, wie's schien, auf immer auch bei ihm präsent. Drum setzte er sich erstmal locker mit entblößtem Po auf einen Hocker und sagte: „Ach, gleichwie“, und nahm ’ne Feder aus dem Etui, um alles sorgsam aufzuschreiben. Je nun, er musste es schon selber tun, sollte es der Nachwelt doch erhalten bleiben. Notierte gleich, wie alles seinen Anfang nahm, wie er sodann in jedem Satz fortan zu einem Endreim kam. 

Schon wichtig ist, zu wissen wie, soll doch vollendet sein die Poesie. August von Goethe wurde bald klar, dass das mit dem Metrum bei gleichem Auslaut am Ende des Verses so einfach, wie's ausschaut, keineswegs war. 

Nicht alles ist von „vornherein", selbst wenn es sich von „hinten" reimt, schon dadurch nicht, so mocht' es auch bei seinen Versen sein, gleich ein Gedicht. Auch ist nicht alles, fiel ihm ein, was zwei Backen hat – à propos P o -esie, wie hinterwärts sein nackter Po – , gleich ein Gesicht.

Doch ohne Frage war's nun so, noch am Tage hatte er an Diarrhoe gelitten. In diesem Fall, derweil ihn Pegasus, das Dichterross, geritten, war es Logorrhoe, zu Deutsch, der Wortdurchfall. Per Zufall fand sich in dem Zimmer noch ein Blatt, das, seiner habhaft, er sogleich beschrieben hat. „Beschlagen“ heute in des Wortes Sinn, denn Schicksalsschläge trafen ihn, ergab es sich, dass er vorhin, und nun auch hier, just auf dem, was da herumlag an Papier, sich auf alles, was er bei sich dachte, passend seine Reime machte. Wie genial er war, das wurde ihm auf einmal klar.

Die Worte nahm er gleich zu Protokoll. Besser war er schrieb sie jetzt schon nieder, für den Fall, man hielte sie, liest man dereinst sie wieder, für bedeutungsvoll. Wie der Worte viele war'n auch schnell die Zettel voll. 

August, Goethes Musensohn, ach hätt' er, sieht man auf die losen Blätter, am andern Morgen bloß daran gedacht, sich zu bequemen, sie auch mitzunehmen, so hätte er es denen, die heute nach ihm forschen, nicht so schwer gemacht.

Irgendwann bemerkt er's dann, dass er zwanghaft reimen muss und bald schon nicht mehr anders kann. So beschert das Reimen ihm zum Schluss statt Vergnügen nur Verdruss. 

„Ach was!“, denkt er, „ich geh zu Bett, womit ich endlich meine Ruhe hätt'. Sind erst die Augen zugemacht, so fände", hatte er zunächst gedacht, das Reimen auch ein Ende"

Jedoch das Hirn, es findet selbst im Schlaf die Ruhe nicht. Wie auch bei ihm, so zeigte sich, dass in Gedanken immer noch was weiterspricht. Schon hörte er, kaum zu ertragen, sich irgendeinen Blödsinn sagen: „Tam-ta-tamm und Pim-pa-pamm, Dideli-di, Dideli-du, dies und das und immerzu". 

Kaum dacht' er das, so reimte sich schon wieder was. So lapidar, wie auch der Inhalt war, glichen sich im Auslaut, welche Qual, die nächsten Worte, wie's grad hinhaut, wieder mal. Oh nein, das alles war durchaus nicht heiter, denn es ti-tickte immer noch das Metrum weiter. 

Da fiel ihm ein, er brauchte doch sein Quantum Wein. Mit dessen Hilfe, wie er hoffte, ni-nickte er in „Morpheus Armen" ein, was in der Folge hieß, dass er womöglich dann, sollte er im Tiefschlaf sein, endlich auch das Reimen ließ.

Man kann's nicht anders sagen, wie schon gedacht, hat er im Gastraum unten – wegen seiner Blöße bloß in eine Decke eingeschlagen – ein halbes Dutzend Krüge leergemacht. Schlussendlich nach dem Zechgelage war er sturzbetrunken auf den Boden glatt herabgesunken. Und unterm Tisch lag er nun schlapp und sagte weder Piep, noch Papp. Was dann sonst noch so geschah, folgt ab hier nur noch in Prosa: 

Als man ihn am anderen Morgen wieder unter dem Tisch hervorgeholt hatte, musste er in die Kutsche getragen werden. Die Reise anschließend ging noch weiter nach Florenz, über Livorno und Neapel. In Rom werden die Notizen immer dürftiger. Er klagt, dass mancher Besichtigungstag zur „Teufelstour“ werde. Unter der Überschrift „bester Vater“ beschreibt er schließlich die Quintessenz seines Rom-Gefühls: „Mein höchster Wunsch ist erfüllt! Hab Italien gesehen und auf meine Art auch irgendwie genossen ...“ Und damit war zuletzt die Sache für ihn abgeschlossen.

Im Weiteren ließen ihn narkoleptische Aussetzer immer wieder in ohnmächtigen Schlaf versinken. Als er schließlich nicht mehr aus der Kutsche ausstieg, diagnostizierte der herbeigerufene Arzt eine über seine Schlummersucht hinausgehende finale „Hirnlähmung“, was hieß, dass er tot war.

War die Causa der permanente Suff? Seine schriftlichen Aufzeichnungen zeigten sich in Form und Inhalt letzthin immer chaotischer. Oder war es in Sonderheit die Folge der vorausgegangenen „Schicksalsschläge“?

Zurück zum Faktischen: Die Autopsie ergab ein „subdurales Hämatom“, ein Bluterguss unter der Dura Mater, der harten Hirnhaut. „Subdural", anders gesagt, zwischen ihr und der stark durchbluteten Spinnwebenhaut (Arachnoidea), können die haarfeinen Blutgefäße, die Kapillaren, durch Schädel-Hirn-Traumata auch leicht schon mal aufplatzen. Das passiert besonders dann, wenn sie infolge ständigen Alkoholkonsums unter Hochdruck stehen.

Nebenbei ergab die Leichenöffnung, dass sich August zu Lebzeiten, so man ihn nunmehr bis auf seine Knochen durchschauen konnte, eine Clavicula-Fraktur (Schlüsselbeinbruch) zugezogen haben musste. Sehr wahrscheinlich beim Sturz aus der Kutsche beim Zwischenhalt und Zwischenfall in La Spezia. Daher seitdem auch der ständige Griff zur linken Schulter. Der unverheilte Bruch wird den Dichtersohn in seinen letzten Lebenstagen elend geschmerzt haben. Vielleicht hat ihn das Übermaß an konsumierten Alkohol die Qualen zeitweilig vergessen, heißt verschmerzen lassen.

Nun wäre es völlig unangemessen, Goethes Sohn, gemessen an seinem genialen Übervater, nur als den sprichwörtlich „dummen August“ vorzuführen. Freilich, unmäßiges Saufen schadet am Ende dem Gehirn.

Nüchtern betrachtet war er gescheitert an einer ihn völlig überfordernden Rolle. Wie eingangs schon erwähnt, hatte ihm der Kulturphilosoph Friedrich Schlegel „DES THEUREN ZÜGE TRAGEND, ERBE SEINEN GEIST“ ins Album geschrieben, was sich mehr als Fluch, denn als Segen erwies.

 

 

 

Auf dem Grabstein (s. Abb.) an der westlichen Seite der Cestius-Pyramide auf dem Cimitero acattolico, dem Protestantischen Friedhof in Rom, fehlt sein Vorname. Auf dem von Thorvaldsen angefertigten Medaillon verschweigt ihn die von Vater Goethe verfasste Inschrift. Dort heißt es nur: GOETHE FILIVS / PATRI / ANTEVERTENS / OBIIT / ANNOR[VM] XL / MDCCCXXX (Goethe der Sohn / dem Vater / vorangehend / starb / mit 40 Jahren / 1830). – Fast möchte man an den Kutscher denken, zumal jener, des Genitivus' possessivus' nicht mächtig, auch nur immer „von dem Goethe sein Sohn" sprach.

 

August von Goethe, gezeichnet von Julie Gräfin Egloffstein, gemeinfrei 

* Verdeckte Gene, die spontan wieder in Erscheinung treten.

Goethes Hausgarten mit Christiane Vulpius und August von Carl Lieber nach Goethes Entwurf [1793], gemeinfrei

*Eine Blutgruppen-Unverträglichkeit ergibt sich, wenn das Blut der Schwangeren Rhesus-negativ und das Blut des Kindes Rhesus-positiv ist. In einem solchen Fall hat das Kind den Rhesus-Faktor des Vaters geerbt.

Goethe in der Campagna, Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, gemeinfrei

Zitronenbaum: Aufnahme E. Isenberg

Foto: Das Grab von Goethes Sohn (August von Goethe) auf dem Protestantischen Friedhof in Rom mit einem Medaillon, gefertigt von Bertel Thorvaldsen. Aufnahmen dankenswerterweise von Cordula Trotier zur Veröffentlichung überlassen.

Empfohlene Lit.: „Mein höchster Wunsch ist erfüllt“, August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden, Tagebuch 1830. Erstdruck nach den Handschriften. Herausgegeben von Andreas Beyer und Gabriele Radecke. Carl Hanser, München 1999, 335 S.