„Höre, höre, unsere Weise, die der Zephir zu Dir weht!“

  

Schubertiaden

Schuberts Liedkompositionen, die er selbst – zurecht im ganzheitlichen Sinne von Wort und Klang – Dichtungen nannte, standen vor mehr als zweihundert Jahren auf dem Programm eines musikalischen Salons. Ein erster dieser Art fand 1815 im Wiener Gundelhof statt, zu dem der kunstsinnige Professor Vinzenz Sonnleithner interessierte Gäste eingeladen hatte. Solche Hauskonzerte, denen weitere folgten, boten dem jungen Schubert eine gute Möglichkeit, seine Werke in Wien bekannt zu machen. Die privat veranstalteten Konzertabende wurden nach ihrer Hauptattraktion sehr bald auch „Schubertiaden" genannt. Schriftlich belegt ist die Bezeichnung erstmals 1821. Sie wurde in einem Brief verwendet, wonach eine solche Veranstaltung in der Wohnung von Franz von Schober stattfand.

Ab 1822 gebrauchte Schubert selbst den Begriff. Bei den ersten Schubertiaden spielte der Komponist Klavier und die Baritone Johann Michael Vogl oder später Carl von Schönstein sangen seine Lieder. Auch Lesungen, welche häufig unter einem bestimmten Thema standen, gehörten zu den Abenden. Diese waren eine Mischung von freundschaftlichem Treffen und literarisch-musikalischem Salon.

W e r  w a r  d i e s e r  S c h u b e r t , um den man sich scharte?

 

Ein Wiëner Franz’l aus der Vorstadt

Zunächst nur ein Franzl, so einer aus der Vorstadt, aus Himmelpfortgrund. „Na und?“, könnte man fragen. Was ließe sich aus heutiger Sicht sonst noch zur Einordnung seiner Geburtsumstände sagen? Wonach standen die Zeichen der Zeit – seinerzeit?

Das ferne Wetterleuchten der Revolution, das sich bedrohlich am westlichen Horizont abzeichnete, wurde damals auch in Wien vernommen. Was dann über ganz Europa als Ungewitter aufzog, war Napoleon. Just in jenen bewegten Tagen – konkret: Am 31. Jänner 1797 – erblickte Franz Peter – als 13. Kind der Schuberts – das Licht der Welt. Als jene Fremdherrschaft nach ihrem letzten Schlachtgewitter schlussendlich ihr Waterloo erlebte, sorgte anschließend – wie wir aus der Geschichte wissen – Friedensfürst Metternich für Ruhe und Räson. Sein Überwachungssystem ließ den tunlichst kuschenden Biedermeiern nur wenig Freiraum. Auch die Eheleute Schubert – zunächst unspektakuläre Kleinbürger, jedoch nicht ungebildet und untalentiert – fügten sich drein.


 

Innenhof vom Haus in der Nußdorfer Straße 54 in Wien,

wo Franz Schubert bis zu seinem vierten Lebensjahr gewohnt hat.

 

Schule nicht nur am Morgen

Im Verein mit dem Vater konnten sich die Söhne im hauseigenen Streichorchester bereits im Musizieren üben. Ansonsten ging’s bei den Schuberts ärmlich zu. Nach eigenem Beklagen mochte es dem Vater erscheinen, als habe er mit seiner Berufswahl das Gelübde der ewigen Armut abgelegt. Kurz gesagt: Er war Lehrer. Doch ohne Beamtengehalt, – kein Fixangestellter, wie‘s der Wiener nennt –, sondern er lebte von dem Schulgeld seiner nicht wenigen, aber doch eben wenig zahlenden Schüler.

Für seine eigenen Kinder war der mitunter gestrenge Vater gefühltermaßen übermächtig. Schule war nicht nur morgens, bei Schuberts war sie ohne Pause, schließlich wohnte die Familie in der Schule.

Die Schar der Kinder hätte fast Klassenstärke erreicht, wenn nicht so viele von ihnen früh gestorben wären. Franzls innig geliebte Mutter kam vermutlich 14 mal nieder. Über die tatsächliche Zahl der Kinder, mitunter ist von 16 die Rede, hatte man im Hause Schubert womöglich die Übersicht verloren. Als seine Mutter 1812 starb, geschwächt von den vielen Schwangerschaften und Geburten, war Franz 15 Jahre alt. Sein Vater heiratete ein zweites Mal. Aus der Ehe mit der zwanzig Jahre jüngeren Anna Kleyenböck gingen noch weitere fünf Kinder hervor.

Das Wiegenlied, „Schlafe, schlafe, holder, süßer Knabe", das Franz Schubert 1818 komponiert hat, mag durch seine  Kindheitserfahrungen begründet sein, zumal er in seiner Familie den Geschwistertod mehrmals miterleben musste. 

Was zunächst wie ein liebliches Lullaby anmutet, könnte, gesungen beim Wiegen eines Kindes, verstören, zumal es in der zweiten Strophe heißt: „Schlafe, schlafe in dem süßen Grabe". Unmissverständlich liegt der „holde Knabe", wie er nach dem deutschen Originaltext (früher Matthias Claudius zugeschrieben) besungen wird, bereits im Grabe". Demnach wäre er schon zu den sogenannten Sternenkindern zu zählen. Jene scheinen in der Vorstellung ihrer Angehörigen als Sterne  am Nachthimmel fortzuleben.

In Schuberts Nachgesang heißt es am Ende der dritten Strophe: „ ... noch umtönt dich lauter Liebeston, eine Lilie, eine Rose, nach [?] dem Schlafe werd' sie dir zum Lohn."

 

 

Verstorbenes Kind 

 

Wie der Vater, so die Söhne?

Für die wenigen überlebenden Brüder ging ihr Schülerdasein nahezu fließend selbst wieder in den Beruf des „Hülfslehrers“ über. Als Familie Schubert 1818 nach Rossau umzog, wird im Meldebogen unter den vier bis dahin verbliebenen Söhnen – Töchter werden gar nicht erst genannt – neben dem Ältesten, einem „bucklichten Ignaz“, der Waisenhaus-Lehrer Ferdinand aufgeführt, des weiteren Karl – wohl auch Lehrer – und schließlich Sohn Franz. Seine wenig glückhaften, vom Vater diktierten Versuche, sich als „Lehrgehülfe“ bei den Schülern Gehör zu verschaffen, scheinen nicht nennenswert gewesen zu sein. Wissen einzuprügeln, was seinerzeit als Rohrstockpädagogik nach Art der Angstdressur noch heftig angewendet wurde, war nicht sein Ding. 

Im Melderegister ist er zu dieser Zeit schon ausdrücklich als „Tonkünstler“ verzeichnet. Ebenso amtlich seine knirpshafte Größe von „4 Schuh, 11 Zoll, 2 Strich“. Erwähnenswert wohl deshalb, da Franzl mit – umgerechnet – 1,55 m Körperlänge unterm k. k.-Mindestmaß beim Militär lag. Aus diesen Gründen wurde er nicht rekrutiert. Gleichwohl hat der Zivilist Schubert eingängige Märsche der Nachwelt hinterlassen, zunächst für das Pianoforte und später orchestriert. Sie sind äußerst schwungvoll, geradezu mitreißend. Wenn's doch bloß nicht so ernst wäre, a tempo in den Krieg zu marschieren. 

 

Aus dem Kleinen mochte Großes werden

Schuberts Freund, Moritz von Schwind, hat 1868 aus der Erinnerung die Gesellschaft einer typischen „Schubertiade“ gezeichnet. Auf der linken Bildhälfte (s. Abb. unten) sieht man neben Franz Schubert, der im Hintergrund am Klavier spielt, Joseph von Spaun, der den jungen Schubert in die Wiener Gesellschaft eingeführt hatte und ihn auch immer wieder finanziell unterstützte. Auch bei der letzten großen „Schubertiade“ zu Lebzeiten des Komponisten am 28. Januar 1828 fungierte Spaun als Gastgeber.

 

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 Hauskonzerte im Zeitgeschmack biedermeierlicher Geselligkeitskultur

 

Lange bewahrte Schubert sich ein kindliches Aussehen. Seine runden Knopfaugen, die gewölbte Stirn, darüber das krause Haar, der akzentuierte Mund und das Kinngrübchen mochten tatsächlich das nachmals so genannte Kindchen-Schema bedienen. Doch, doch, den Franz’l – im Ganzen ein wenig pummelig, so dass er, wie es von seinen Freunden aus Graz überliefert ist, auch schon mal „Schwammerl“ genannt wurde – , man mochte ihn, auch wenn man ihn nicht immer ernst nehmen wollte, auf den ersten Blick. Beim zweiten, vor allem Hinhören, überzeugte er indessen. Seine Kompositionen ließen erahnen, dass aus dem Kleinen noch was Großes werden könne.

Vielen, wie wir wissen, widmete Schubert großherzig seine vielen Kompositionen. Die Notensendung an den hochverehrten Goethe kam allerdings als ungeöffnete Postsache wieder zurück. Auch seine Bühnenmusik fand keine rechte Würdigung, obwohl er fast 40 % seines kompositorischen Schaffens für die Oper einsetzte. Anders als sein Vater befürchtet hatte, fand er sein Auskommen mit der Musik. Er war und blieb ein wirklich freischaffender Künstler und niemals einer Herrschaft zu Diensten.

 

Seine Produktivität geradezu maßlos

Sein Leben war in seinem Ertrag gewiss erfüllt, aber natürlich viel zu kurz. Er lebte nach dem Jesus-Prinzip, ohne Eigentum und feste Bleibe, von vielen Freunden ein gern gesehener Gast. Um Schubert hatte sich damals ein kunstnärrischer Bekanntenkreis formiert. Seine Künstlerfreunde boten ihm Unterhalt und Unterhaltung. Neben der Inspiration verschafften sie ihm aber auch immer wieder die notwendige Muße für die Muse.

Seine Produktivität war geradezu maßlos, auch oder gerade in den bedrückendsten Lebensphasen. Wenn es ihm ausgesprochen gut ging, wenn er beispielsweise im Sommer von den Esterhazys auf ihr Schloss Zseliz, im damaligen Ungarn, eingeladen war, dann versiegte merkwürdigerweise der Quell frischer Eingebungen. Ansonsten traf sich Schubert und sein Freundeskreis in den Wiener Salons ihrer betuchten Gönner. Zeitlebens schrieb er für diese Kreise.

 

Zu einer verbindlichen Liebe reichte es nicht.

 

Höre, höre uns're Weise, / die der Zephir zu dir weht, / die der Minne klingt zum Preise!

Öffne doch dein Fenster leise, / unser zartes Liedchen fleht.

 

Auch wenn Schubert vornehmlich in Männerkreisen verkehrte, mit Freunden sich oftmals die Wohnung teilte –  deren Klavier dort auch benutzte, von dem er, nachdem er zuhause ausgezogen war, kein eigenes mehr besaß – , so war er doch dem anderen Geschlecht keineswegs abgeneigt. Seine zarte Zuneigung zu den Mädchen entwickelte sich oftmals über ihre Singstimmen, die ihn begeistern konnten und ihn zu neuen Kompositionen – passend zu ihrer Stimmlage – inspirierten.

Doch darüber hinaus, zu einer verbindlichen" Liebe reichte das nicht. Seinerzeit durften nach der geltenden Räson Fürst Metternichs nur solche Männer heiraten, die ein gesichertes Einkommen, also eine Festanstellung nachweisen konnten. Schubert war nicht arm, aber doch eben nur freischaffend.

Für den Mann am Klavier war ein wenig Liebe – oder was man in Männerkreisen dafür hielt – allenfalls beim Dienstpersonal, wie dem Stubenmädel Péppi in Esterházy zu haben.

Zur Not, wie sie auch der Franz immer wieder verspürte, haben sich Männer, wenn es sie dazu drängte, bei den Wiener „Schmuddelmaderln“, gewerbsmäßigen Gassenschwalben" oder Fensterhennen" bedient. Deren verruchte Billigkeit rächte sich alsbald durch jene Symptome, die im Medizinerjargon als venérisch bezeichnet werden.

Geduldig, auf Genesung hoffend, traktierte er sich mit ominösen grauen Salben. Bleihaltig, wie diese waren, verlor in deren Folge der „kleine Mohr“ – wie er von Freunden auch genannt wurde – zeitweise seine schwarzen Locken. Die letzten Jahre waren ein Elend, aber doch von erstaunlicher Schaffenskraft. Sein fulminantes Spätwerk kam – anders als es die Bezeichnung nahelegt – natürlich viel zu früh. Nur 31 Jahre alt war Schubert, als er am 19. November 1828 verstarb.

 

Ein kurzes Leben mit reichem Ertrag

Nun aber noch einmal zur Ausgangsfrage: W e r  S c h u b e r t  w a r ?

Der Lebensertrag, den schließlich wir, die Nachlebenden aus der Schubert'schen Musik beziehen, ist das eine, sein gelebtes Leben war – wie wir nach allem ahnen können – etwas ganz anderes. Vielleicht gehört das fast schon obligate Leiden des Genies, das auch Schubert in seinen letzten Lebensjahren ertragen musste, einfach dazu. Es ist scheinbar jene unstillbare Sehn-Sucht, die sucht, wonach man sich sehnt, nach dem, was man nicht hat und haben kann, um letzte Erfüllung und Vollendung zu finden.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“, heißt es in einem Goethe-Text, den Schubert vertont hat (s.u.).

 

 

„Allein und abgetrennt / von aller Freude,

seh´ ich ans Firmament / nach jener Seite.

Ach! Der mich liebt und kennt, / ist in der Weite.

Es schwindelt mir, / es brennt mein Eingeweide.

N u r  w e r  d i e  S e h n s u c h t  k e n n t,

w e i ß,  w a s  i c h  l e  i d e!“

 

Mag es bei ihm Liebesleid, das Leid der romantischen Unstetigkeit, das Ferne zu suchen, die Heimat zu missen. Vielleicht auch immer nur außen vor und letzthin einsam zu sein, das Spüren verrinnender Zeit und absehbarer Unheilbarkeit, Gewissheit in der Unvollendetheit oder die Sehnsucht nach der letzten bleibenden Wohnstatt eines Vaters, vielleicht eines gütigeren.

 

In seiner Musik wird er bleiben

Das war’s. Das war Schubert.  W e r  i s t  n u n  a b e r  S c h u b e r t ?

Die Antwort gibt das, was von ihm geblieben ist: seine Musik. In vielen Konzerten ist sie immer noch eine Programmkonstante. Das Publikum mag sich bei Schubert behaglich zurücklehnen, denn seine Musik ist unendlich schön, mitunter volkstümlich melodiös, aber nicht simpel und selbst in Nebenmotiven von verschwenderischem Ideenreichtum. Sie ist aufregend kreativ und, weiß Gott, genial.

 

Fotos: Erwin Isenberg, 2019

Abb. Schubertiade, Moritz von Schwind, Wien Museum, Wien, Foto gemeinfrei.

Repro von einer original DIABELLI-Ausgabe aus dem Notenarchiv von MakSi in Stift Keppel, Isenberg

Vom Autor in Teilen verwendete Texte für eine Konzertmoderation 2015.

Aufgebahrtes Kind, von Miklós Barabás - gemeinfrei

 

Literaturempfehlung: Peter Härtling, Schubert, Luchterhand Verlag, 1992