Abgesang? Oder eine Hommage an das, was uns verlorengeht?

 

Wenn ein Männerchor was kann, dann ist es in der Regel der disziplinierte Auftritt. Mannschaftskleidung, möglichst schwarzer Anzug, den man gleichermaßen zu Beerdigungen und zum Singen – wie praktisch! – aus dem Kleiderschrank holt. Selbstverständlich eine einheitliche Krawatte oder eine allzeit strammstehende „Beton“-Fliege, die einen fast frivolen Farbtupfer in das Erscheinungsbild der Dunkelmänner setzt. Außerdem wird darauf geachtet, dass die Klappen der Jackentaschen links wie rechts in gleicher Weise ein- oder ausgeklappt sind.

Wenn sie auf dem Podium Aufstellung genommen haben, tritt Schockstarre ein. Unterdessen sucht der Jüngste – meistens der Dirigent – den Ton und findet ihn im besten Fall auf dem verstimmten Saalklavier. Einige Männer greifen sich hinters Ohr und justieren ihr Hörgerät. Die Töne der vier Stimmlagen werden zögerlich erwidert. Schnappartig atmen alle durch, oder besser ein. Mancher gute, daher auch selten getragene Anzug kann seine unterdessen knapp gewordene Bemessung kaum verhehlen. Wenn das Zwerchfell die Bauchmasse verschiebt, hält vorne der mittlere Jackenknopf nur mit äußerster Anspannung das zusammen, was rückseitig die Rockschöße auseinandertreibt. Nun ja, wem ist es schon vergönnt, einen Männerchor von hinten zu sehen?

Das Durchschnittsalter der Herren dürfte vielerorts auf 70 und darüber gestiegen sein. Schon ziemlich neckische Lieder geben die alten Männer, die von den Jüngeren als uHu’s (unter Hundertjährige) bezeichnet werden, zu Gehör. Die liederliche Liebelei, die von ihnen mitunter besungen wird, erscheint, wenn man auf das Alter der Sänger schaut, nicht wirklich glaubhaft. Überzeugender klingt es, wenn ein paar alte, aber gute Bässe den „deutschen Wald“ rauschen lassen und die Tenöre und Baritöner, wenn sich das musikalische Hochamt zum apotheotischen Finale steigert, ihr überwältigendes Schwellwerk einsetzen. Das von den Epigonen der „Zu-spät-Romantik“ eigens für sie neu geschriebene Liedgut", ist meist nicht so gut", wie es heißt. Gewiss nicht das, was jüngere Sänger locken würde mitzumachen. Die alten Tonsetzer, Schubert und Mendelssohn-Bartholdy, sind da schon wesentlich besser, sicher auch anspruchsvoller. Selbst für junge Sänger eine Herausforderung

Man(n) ist jedenfalls bemüht und artikuliert diszipliniert im Takt und Gleichklack die im Deutschen so häufigen Wortenden auf „k“ und „t“. Das beeindruckt das Publikum, das doch gerne auf das Akkurate achtet. Ob der Chor beim Singen sinkt, merken, bis auf den Dirigenten, die wenigsten.  

Da den Sängern geraten wurde, sich nicht hinter Notenmappen zu verschanzen oder während des Liedvortags den gelegentlich herausfallenden und aufgewirbelten Notenblättern ad coram publicum nachzujagen, verschließen einige demonstrativ ihre Mappen und daraufhin andachtsvoll ihre Augen. Schließlich sollen Noten und Text auswendig, heißt inwendig im Kopf sein.

 

 

Hernach, wenn das endlich alles geendet hat, huscht ein zartes Lächeln über die entspannten Gesichter. Der Dirigent verbeugt sich stellvertretend für die Sänger. Artiger Applaus prasselt sanft auf die bejahrten, aber doch wieder mal beglückten Jungs nieder, bis man sie abtreten heißt. Die Presse wird anderntags artig titeln: „Chor konnte gefallen“.

Es liest sich vielleicht wie eine Parodie, aber man kann es auch ganz anders sehen: Dem Chor, den Sängern selbst, mag es gefallen. Und das ist wesentlich.

In einigen Jahren werden, auch in sonst sangesfreudigen Regionen, keine reinen Männerchöre mehr stimmig, also auftrittsfähig sein. Sie werden aussterben, nicht nur der alten Herren, sondern auch der Zeitläufte wegen, denn die einst florierende Laienkultur zehrt aus. Professionalität, medial verbreitet, ist für Jedermann zu jeder Zeit mit den lokalen Bemühungen vergleichbar. Schade, denn das eigene Singen, mag es auch laienhaft sein, trägt ganz wesentlich zum persönlichen Glücksgefühl bei. Das ist durch wissenschaftliche Untersuchungen bewiesen und kann jede Sängerin und jeder Sänger aus eigener Erfahrung bestätigen.

Musik bewegt uns alle – es sei denn, man wäre taub oder sonst wie unempfänglich. Dabei mögen Töne, auch die mitunter instrumental angeschlagenen Saiten jene verschlossenen Seiten in unserem Innern zum Klingen bringen, auf denen das sonst Unbeschreibliche steht, das unbeschreiblich Schöne, Heitere, Erhabene, aber auch das Traurige, die Sehnsucht nach Erfüllung, das Ahnungsvolle nach dem Vollkommenen, dem Jenseitigen. Mehr himmlisch als irdisch – zumal es dort oftmals schwer und bodenbehaftet zugeht – erhebt uns die Musik.

 

Im Singen gibt man sich selbst, mit allem Risiko auch im Ton mal daneben zu liegen. Doch wie beglückend ist es, Wohlklang zu erreichen, ihn zu vermitteln, in freudigen, in traurigen und auf jeden Fall in feierlichen Momenten. Denn Singen ist immer etwas Besonderes, wozu der Mensch jenseits vom Brummen, Stöhnen und Schreien, unter allen Kreaturen, wenn er’s kann, befähigt ist. Im Chor mag es für viele leichter gelingen.

Bei den Männerchören, die in der romantischen Laienchorbewegung des 19. Jahrhunderts den Anfang machten, ist der Verlust besonders abzusehen. Männer schließen sich oftmals in älteren Jahren Chorgemeinschaften an, manchmal erst nach ihrem Berufsleben, und sind daher naturgemäß älter. Aber doch, wie wohltuend auch die Stimmen von älteren Männern noch klingen können. Da mag man über die schlohweißen oder fehlenden Haare glatt hinwegsehen. Vor einiger Zeit raunte in einem Chorkonzert eine junge Zeitungsreporterin ihrer Nachbarin zu: „Ein geiler Männersound! Meinst du nicht auch?“

 

Foto: E. Isenberg