Zum Wundern schön

 

Was „wunderschön“ ist, wie auch das Gegenteil – als Kinder sprachen wir in krassen Fällen von „potthässlich“ –, lässt sich so leicht nicht ermessen. Was ist schon objektiv schön? Ist es nicht das Subjektive, das im eigenen, voreingestellten Blick an manchen Tagen die Welt merkwürdig" schön erscheinen lässt? So ging es mir immer wieder mit Dingen, die mich in diesem Sinne aufmerken" ließen. 

In ausnehmend blickfälligen Momenten sind es vor allem Menschen, die mir schon vom ersten Eindruck her bewundernswert erscheinen. Was wirklich schön und nicht nur ein wenig hübsch oder apart ist, kann nach meiner vorgefassten Meinung vom inneren Wesen her nicht schlecht sein. Wäre jedoch Falschheit dahinter, so wäre, was nur vordergründig gefällig erschien, eine gemeine Täuschung. Man möchte es ungern glauben, doch sicher kann man nie sein.

Schönheit und Klugheit zugleich wären natürlich eine ideale Paarung. Doch in der Realität sind bei dem Produkt aus dieser Verbindung nicht immer beide Eigenschaften in einer Person zugleich vereint. Die Tänzerin ISADRORA DUNCAN (1877-1927), Wegbereiterin des modernen sinfonischen Ausdruckstanzes und in ihren besten Jahren eine ausgewiesen klassische Schönheit. traf auf den irischen Schriftsteller GEORGE BERNHARD SHAW und machte ihm ein Angebot: Wir sollten ein Kind zusammen haben. Mein Aussehen und ihre Intelligenz würden einem solchen Kind die Welt eröffnen.

 

Tänzerin Isadora Duncon in griechischer Pose mit Tunica 

 

SHAW erwiderte: Doch was geschieht, wenn es mein Aussehen und ihre Intelligenz bekommt?

Ein Kalenderspruch lautete, schöne Menschen erkennt man nicht bloß an ihrem Aussehen. Doch was haben wir beim Ansehen anders vor Augen als das Aussehen? Wenn ich zum Beispiel in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln sitze und genötigt bin, durch die vorgegebene Sitzanordnung auf das zu schauen, was ich eigentlich gar nicht sehen möchte, so blicke ich oftmals in verkniffene Gesichter, in ihrem täglichen Ingrimm beinah schon in Falten gemeißelt, als hätten sie es, auf Dauer sauer, nicht besser verdient. Sie erscheinen mir wie sattsam bekannte Abziehbilder einer übellaunigen Klientel, so dass man ein zweites Mal gar nicht mehr hinsehen möchte. Wie Pfeile habe ich meine vernichtenden Urteile – oder sind es Vorurteile? – schnell verschossen, nur in Gedanken, versteht sich. 

Was sich mitunter mühsam, wonach es aussieht, aber letzthin vergebens aufgehübscht hat, löst eher Mitleid aus. Hässliche Kröten kommen mir in den Sinn, zu deren gesprenkelter Natur es gehört, dass sich ihre Körperkonturen nur undeutlich umreißen lassen (Somatolyse) und sie somit leicht zu übersehen sind. Manch aufgeblasener Frosch hingegen lässt befürchten, was zu hören wäre, wenn er auch gleich noch zu quaken anfinge. 

 

Vom Wesen her schön 

Nun aber genug der unschönen Momente! Da gibt es die anderen, wenn mir Menschen begegnen, die wie ein Wunder daherkommen und Anlass geben, dem Schöpfer aller Dinge, der in diesem Wesen so Schönes hervorgebracht hat, im Stillen zu danken. Es liegt in der Natur, dass auch deren Mütter und Väter, die zu ihrer Zeit gewiss nicht minder anziehend waren, zum gelungenen Resultat beigetragen haben.

Vorzugsweise nehme ich in meiner männlichen Sichtweise weibliche Wesen in den Blick. Wie schön sie doch sein können!

Aus Männersicht sollte man allerdings Frauen nicht bloß auf ihre Schönheit reduzieren, nicht nur auf das strahlende Gesicht, Busen, Beine, Po und was an Reizen sonst noch so. Mögen auch ihre anderen Qualitäten wahrgenommen werden, die vielen Begabungen, die vormals nur Männer realisieren durften.

 

 

Der bild-schöne Adonis 

 

Wenn wir schon von Männern sprechen: Auf ausgesprochen schöne Exemplare ihrer Art trifft man seltener. Ob sie grob, dick oder mickrig sind, ob sie durch eine Glatze glänzen, man ist gewohnt, es bei ihnen so zu nehmen, wie es ist. Mancher Mann, der sich im Spiegel sieht, wird einfach sagen: Passt schon"Jene, die sich für eine Ausnahme halten, mögen vielleicht an narzisstischer Selbstüberschätzung kranken". Nun ist es so, dass erst mit der Geschlechtsreife das typisch Männliche ausreift. Im ausgeprägten Sexualdimorphismus zeigt sich, was man versus „Kindfrau“ ein „gestandenes Mannsbild“ heißt. Weniger gepolstert, im Ganzen kantiger, zudem ein Bart, der ihm nach drei Tagen, wenn er ihn nicht täglich von Grund auf kurzhält, vernehmlich zu Gesicht steht. Die Schultern sind breiter als die Hüften. 

Da schwingt und schwappt kein Po, / auch wippt an ihm nicht sonst noch irgendwas und irgendwo. / So kennt man ihn, / geht doch ein Mann / meist maskulin, / wie man sagt „zack-zack", / soll heißen „strack"/ voran.

Nun mag unser aller Adam – ein Name, der einfach nur Mensch" bedeutet – das Gesellenstück seines Schöpfers gewesen sein. Als ihm mit Eva jedoch ein Meisterstück gelang, wäre die Welt bereits in Ordnung gewesen, wenn sich das Urbild des Weiblichen nicht auf die verfluchte Schlange eingelassen hätte (Gen 3, 1-6), die ihr die blasphemische Versuchung ins Ohr zischte, von den verbotenen Früchten vom Baum der Erkenntnis zu nehmen. Listig gedacht, ist es doch jene Erkenntnis, wonach der Mensch gemeinhin trachtet, vollkommen zu sein wie Gott (Gen 3,5). Auch Adam ließ sich in eben demselben Wunsche von Eva überreden. 

 

Als das erste Übel" über die Menschen kam: 

Ist es zunächst Eva, die auf die Schlange, oder letzthin Adam, der auf seine Frau hört, 

oder ist beiden die Ur-Schuld" der Menschheit zu verübeln? 

 Albrecht Dürer, 1504. 

 

Ist  s i e  deshalb auf immer das leicht verführbare, auch selbst verführerische, ach so verruchte Weib"? Oder war sie Adam in seiner unbedarften paradiesischen Denkart nur einen Schritt voraus, vielleicht darin, bloß anders zu denken, im Sinne von: „Was wäre denn, wenn ...?" Es ist ja nur ein kleiner Schritt, aber im Prinzip ein großer für die Fragen der Menschheit.

Irgendwann wiederholt sich in der Entwicklung eines jeden Kindes der fragliche" Moment, „was wäre, wenn ich es nicht oder mal anders mache als gewohnt oder von mir erwartet wird". Ein fataler Gedanke. Er kann einen Rückschritt bedeuten, wenn man eine bestehende Ordnung oder bereits Erprobtes missachtet. Aber es kann auch ein Fortschritt sein, der Weg zu etwas Neuem, auf jeden Fall zu einer neuen Erkenntnis. 

 

Kann denn Wissen Sünde sein?

Mitunter ja. Gutes und Böses zu unterscheiden, vermochten unsere Ureltern im Fleische und Geiste ja erst nach erfolgtem Verzehr des verbotenen Obstes. Und schon, be-„vor" sie nach"-gedacht hatten, war's getan. Sie aßen beide davon. 

Für das Werden und Wachsen der Menschheit braucht es von Anfang an naturgemäß Zwei. Gott sah selbst, dass es nicht gut ist, „dass der Mensch alleine sei (1 Mose 2,18)“. Endlich", rief Adam aus, ein Wesen mir gleich!" Das Schöne, das im Weib" den Mann anzieht, offenbar von Gott gewollt. Dafür darf man/Mann ihm dankbar sein.

Nehmen wir hierzu des Menschen Kind, was aus dieser zweisamen Beziehung folgen kann, in den Blick. Auch so ein Kind ist irgendwie schön. Man frage eine Hebamme, die das neugeborene, noch verschrumpelte Etwas einer glücklichen Mutter, die fast ihr Leben für das neue Leben aufs Spiel gesetzt hat, in den Arm legt. Sie wird bestätigen, dass es der Moment ist, wo sich Himmel und Erde berühren, und die Eltern gerührt feststellen „Gott sei Dank, alles ist dran!“  Beim Jungen noch eine Kleinigkeit mehr.

Was auch immer andere denken, so ist „einem sein Kind“ selbstverständlich das Schönste der Welt, ein großartiges Geschenk, mehr als man gemeinhin verdient hat. Mit „Ehrfurcht“, ein Wort mit hohem Anspruch, sollten wir alle einem Kind, auch wenn es nicht das Unsere ist, begegnen. Der biblisch zitierbare Mühlstein (Mt 18,6) sollte hingegen demjenigen, der ein Kind verführt oder missbraucht, „um den Hals gehängt werden“, so dass er „im Meer, wo es am tiefsten ist“, für immer „ersäuft.“ 

Verhaltensforscher haben seinerzeit den Begriff vom „Kindchenschema“ geprägt, das nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip den Ablauf unseres darauf programmierten Verhaltens zum Schutz derer, die besonders schützenswert sind, auf biologische, heißt natürliche Weise „eröffnet“. 

Aggressionshemmende Signale wie das Babyface 

 

Die Schönheit eines Kindes, eines jungen Menschen, ist nicht zufällig, sondern gehört notwendigerweise zu unserer Art, letzthin zu ihrer Erhaltung. 

Nun ist es vielleicht leicht, was jung ist, schön zu finden. Das Tragische ist, dass wir so jung und schön, wie man in geselligen Kreisen zu sagen pflegt, nur heute und nie wieder zusammentreffen werden. Die längste Zeit unseres Lebens sind wir alt und werden immer noch älter dabei. Methusalem zu sein, war damals die Ausnahme, heut oft schon die Regel. Doch kann das noch schön sein, ein Mensch von fünfzig, sechzig, siebzig Jahren – nach Psalm 90,10wenn‘s hoch kommt, sind`s achtzig Jahre“ ?

Man verlässt sich unter diesen Umständen gern auf die Schönheit, die von Innen kommen soll. – Geschenkt! Man muss es schon sehen, wenn’s denn schön sein soll. 

Was zunächst fast ideal erscheint, wird immer mehr real, wie das wirkliche Leben. Zunächst lebensprall strotzend, bald nur noch prall und protzend, dann zunehmend schlaffer und faltig, schließlich schütter und fragil, schlohweiß, einer Pusteblume gleich, die im nächsten Windhauch verweht. Nach klassischem Ideal ist man vielleicht nicht mehr schön, man wird zunehmend, wie vieles im Alter abnimmt, schließlich so sein, wie man’s am Ende verdient hat. 

Mit dem Alter, heißt es auf dem Theater und im Film, steigt man ins Charakterfach auf. Bei Frauen früher, weil sie auch allzu schön sind bzw. waren, bei Männern meist später.

Wie schön, einen Charakter zu haben und ihn auch ehrlich zeigen zu dürfen, wenn das vormals bloß glatte, aber vielleicht langweilig hübsche Gesicht nunmehr „interessant“ wird. Sein ganzes Sein manifestiert sich beim Menschen in seinem gealterten Antlitz. Oft ist es jene Würde einer Lebensleistung, die man sehen kann, macht sie doch auch oder gerade alte Menschen in ihrer Art bemerkenswert" schön. Jeder Affe, der es versucht zu übertünchen oder glatt zu straffen, macht sich geradezu lächerlich. Unwürdige Greise jener Unart sind zu einem immer nur lächeln" in Botox erstarrt.

 

Zum Niederknien schön

Nachdem wir die Schönheit des Menschen betrachtet haben, nunmehr der Blick auf andere Dinge. Vorab die Frage, kann das, was man ein  D i n g  nennt, an und auch für sich schön sein? 

Nicht was ist, wie es und weil es nun mal von Natur aus so ist, muss damit auch gleich schön sein. Erst im subjektiven Ermessen des Menschen kann etwas schön sein. Der Mensch setzt das Maß aller Dinge", die uns umgeben. So heißt es schon im Homo-Mensura-Satz des Sophisten Protagoras (5. Jh. v. u. Z.). Und wenn ihm das Reale nicht schön genug erscheint, kann er sich durchaus Schöneres denken. Beim gedachten Schönen" spricht man auch vom Idealen". 

Sich in diesem Sinne ein Bild zu machen", darin sind wir frei.  Ein Idealbild im klassischen Sinne zu schaffen, ist gewiss eine Kunst für sich.

 

 

Sandro Botticelli - La nascita di Venere

 

Aber nicht immer muss Kunst auch schön sein. Wenn einem eingebildeten Künstler der bildenden Kunst sein Werk gefällt, auch wenn es bei anderen Anstoß erregt, und der Galerist es trotzdem aufhängt oder aufstellt, ein reicher Kunde bereit ist, den Preis dafür, was Kritiker hochgepriesen haben, zu zahlen, dann darf’s heuer auch mal närrisch, schrill und hässlich sein. Vielleicht braucht es ja nur Zeit, bis die Leute das Bedeutsame erkennen.

Und dann, jenseits von Geräuschen, Krach und Höllenlärm die Kunst der Klänge, jene, die unseren Verstand berauschen, uns irrational bewegen und die Hüften zum Schwingen bringen. Wo uns Worte fehlen, kann Musik Freude, aber auch unsägliche Trauer zum Ausdruck bringen. Sie zu komponieren ist handwerklich gesehen Mathematik, aber was am Ende hinter dem Gleichheitszeichen unserer musikalischen Rezeption steht, spottet jeder Berechenbarkeit. Überirdisches, Himmlisches, das ist oft das, was uns Musik erahnen lässt.

Im Barocken, als man die Künstlichkeit oftmals überdrehte, wie die künstlichen Locken der Perücken, die selbst ein Mann damals trug, glaubte die Musik mit Koloraturen brillieren zu müssen.

 

  

Georg Friedrich Händel (1685-1759)

 

Doch wieviel schöner als das gezierte Hächeln der Hochleistungssänger:innen sind die einfachen Melodien, wie sie auch GEORG FRIEDRICH HÄNDEL immer wieder in seine Oratorien und Opern einfügte. Nehmen wir hierfür so ein anrührendes Beispiel wie das wunderschöne Duett „Er weidet seine Schafe" aus „Messias, Teil I"Die sogenannten einfachen Melodien wie auch „Lascia ch’io pianga", eine Arie aus der Oper Rinaldo, sind tatsächlich zum Niederknien schön".

MOZARTs Arie für die Königin der Nacht ist sicherlich eine hohe Anforderung für stimmathletische Meisterinnen ihres Fachs. Anschließend mag das Publikum frenetisch klatschen. Hingegen MOZARTs Vertonung des mittelalterlichen HymnusAve verum corpus", eine kurze Motette von nur 46 Takten – und nicht mal so schlicht, wie man meinen möchte – treibt den Zuhörenden Tränen der Rührung in die Augen. Wildes Klatschen würde am Ende nur stören.

Der Musikwissenschaftler ALFRED EINSTEIN (1880-1952) – man denkt gleich an den Namensvetter ALBERT EINSTEIN, mit dem er auch befreundet war – schreibt in seiner MOZART-Biographie: „Ave verum ist kunstvoll und liedhaft zugleich; ebenso tief wie einfach; es wahrt zugleich den Abstand vor dem Göttlichen, die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, und ist voll Vertrauen und Reinheit des Gefühls, man möchte sagen: voll Zutraulichkeit.“

Viele Musikbeispiele, auch anderer Komponisten, ließen sich hinzufügen (siehe in dieser Sammlung u. a. den Essay über Franz Schubert: „Höre, höre, unsere Weise, die der Zephir zu Dir weht!“) 

Natürlich auch unsere Sprache, eine Eigentümlichkeit, die den Menschen erst zum Menschen macht, kann zum Bewundern schön sein. Schon wenn man sie spricht, haben Sprachen einen Klang. Hierzu fällt mir als erstes das Italienische ein, das Französische, das Portugiesische.

In dem US-amerikanischen Tonfilm „Der große Diktator" (1940) spricht CHARLIE CHAPLIN, der darin „Heil Hynkel, den Föhrer von Tomanien" mimt, vorgeblich Deutsch, wohl so, wie es sich für Ausländer anhören mag. Ein Geknatter von Konsonanten, aus dem man außer: Schtonk, Strutz Strutz, da krützt eder Strabnitz hüppensett unt strutten tighten ...!", an anderer Stelle nur Wiener Schnitzel und Sauerkraut herauszuhören glaubt.

Gleichwohl, schön ist jede Sprache, die man versteht. Über den Inhalt lässt sich „redlich" streiten, aber die Form kann gewiss beglücken. Vor allem Poesie, wenn man sie zu rezitieren versteht, kann ins Herz eindringen. Die richtigen Verse eingangs einer Rede, schon hat man das Auditorium gewonnen. In diesem Sinne werden in ALBERT LORTZINGs Oper „Zar und Zimmerman“ dem von Amtspflicht aufgeblasenen" Bürgermeister von Saardam gemäß Libretto folgende Worte in den Mund gelegt: O wie schön die Worte fließen / Wie ein Bächlein über Wiesen. / Gar nicht schwülstig, ganz natürlich, / Und der Stilus so ausführlich. / Jeder Redesatz korrekt, / Das macht sicherlich Effekt." 

Gern greift der Bildungsbürger in sein beredtes „Schwatzkästlein“ und lässt, wenn sich die Gelegenheit ergibt „geflügelte Worte“ entfleuchen. Bei mir ist es Tradition, wenn’s mal wieder auf Ostern zugeht und „durch des Frühlings holden, belebenden Blick im Tale grünet Hoffnungsglück“, den Osterspaziergang aus GOETHEs Faust zu deklamieren. Dann bin ich Mensch und darf es sein."

Mit WLHELM BUSCH setzt man Pointen, Worte wie ein Augenzwinkern, die Zuhörer:innen schmunzeln lassen. Mit RAINER MARIA RILKE bekommen Worte Bedeutsamkeit. Seine Lyrik  zwingt zum Nachdenken. Wer sie versteht, dem geht sie zu Herzen.

 

Wie schön, wenn auch die Chemie stimmt.

Auch in kleinen, selbst ultramikroskopischen Dingen lässt sich Schönheit entdecken. Wie schön, wenn diese Dinge, für unser Auge zwar unsichtbar und doch hochwirksam, auch zu uns selbst führen. Zu einem Teil sind wir mit ihnen gleicher Natur. Als Naturwissenschaftler ist mir das Wundern nicht vergangen. Im Gegenteil, es hat sich mit zunehmender Erfahrung nur vermehrt. 

Nicht nur die Vielfalt ist staunenswert, auch das, was dem Dinglichen innewohnt, ist zu bewundern, das Stoffliche das in allem Leben, auch in uns selber steckt. Als Beispiel mag folgendes Ereignis dienen, als in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sich zwei junge Wissenschaftler auf den Weg machten, danach zu forschen, was unser wundersames Sein und Werden substanziell und letzthin funktionell erklärt.

James D. WATSON, der als US-Amerikaner von Hause aus mit einer Portion Naivität gesegnet war, stellte sich und seinem Mitarbeiter FRANCIS CRICK, seinerzeit am King’s College in Cambridge, die Frage, wofür man den nächsten Nobelpreis bekommen könnte? Ein geradezu naiver Wunsch für zwei Männer, die noch von nichts eine genaue Ahnung hatten, aber berühmt werden wollten. Schließlich kamen sie darauf, die molekularen Grundlagen des Lebens zu entschlüsseln, was wohl, wenn es dem Menschen gelänge, der ganz große Wurf wäre.

Dass es eine Substanz gibt, die sich in allen Zellkernen von Pflanzen und Tieren, wie auch in den Zellen der Menschen befindet, war ihnen und auch vielen anderen Genetikern und Biochemikern seinerzeit schon klar. Aber wie Genaueres herausfinden, zumal es eine „Sache“ wäre, die alles organische Sein und Werden auf der Ebene von Molekülen erklären können müsste? 

 

Die Teile und das Ganze

Der österreichisch-amerikanische Biochemiker ERWIN CHARGAFF hatte in der zweiten Hälfte der 1940-er Jahre die Bestandteile der Nukleinsäure hydrolysiert, einfacher gesagt, sie aus dem Gesamtmolekül als Komponenten herausgetrennt und quantifiziert. 

Dabei entdeckte er, dass die organischen Basen Adenin und Thymin sowie Cytosin und Guanin jeweils immer im gleichen molaren Verhältnis (1:1) vorkommen und daraufhin die Regel formuliert, dass diese Basen stets paarweise auftreten müssen. Er kannte wohl die Teile, aber nicht das Ganze, somit auch nicht wieso, warum, wozu es funktioniert. 

Die Biochemikerin ROSALIND FRANKLIN* hatte die Des-oxy-ribo-nuklein-säure (DNS oder DNA), wie man das genetisch relevante Molekül unterdessen nannte, in kristallisierter Form am King’s College in London mit Röntgenstrahlen einer Strukturanalyse unterzogen, um sich, salopp gesagt, ein Bild" davon zu machen. Allerdings muss man wissen, dass sich mit dieser Methode die Struktur des Moleküls, richtet man es lang ausgezogen senkrecht zur Ansicht aus, allenfalls eine Art Schattenmuster zeigt, das sich aus der Lage der Interferenzmaxima der Röntgenstrahlen ergibt, die durch das Objekt gebeugt werden. Immerhin lässt sich hiernach deuten, dass sich da was in versetzten Ebenen um eine gedachte Mittelachse windet und das „Molekül des Lebens“ aus zwei regulären Molekülsträngen bestehen müsse (s. Abb. unten). Später sprach man von einer Doppelhelix. 

 

  

Röntgenaufnahme von der Doppelhelix,

veröffentlicht 1953 von der britischen Biochemikerin ROSALIND FRANKLIN

Spezialistin für die Röntgenstrukturanalyse von kristallisierten Makromolekülen

 

Viele Fakten hierzu, v. a. zur Frage der Drei-Dimensionalität, wurden von ROSALIND FRANKLIN akribisch, aber auch zeitaufwändig nach der PATTERSON-Methode*** berechnet. Schnellschüsse waren nicht ihr Ding.

 

Wettlauf zum Ruhm****

W. & C., die zwei besagten jungen Wissenschaftler aus Cambridge, die sich Daten und Aufnahmen bei ihr abgeschaut hatten und sich daran machten, ein erstes Modell der DNA mit vorgefertigten Molekülmodellteilen nach der Art von trial and error zusammenzusetzen, wollten ihr zuvorkommen. Das Modell, das sie zusammengebastelt hatten, hätte allerdings im richtigen Leben nie funktionieren können. Ein Schnellschuss, der sprichwörtlich in den Ofen ging. Kurz danach haben sie die Anordnung der Moleküle, der Nukleotide, so lange im wahrsten Sinne des Wortes durchgespielt", bis die Struktur im Ganzen endlich passend erschien. Nein, ein Monster an wirrer Komplexität, wie es zunächst nach der ersten Montage auskam, konnte es nicht sein. Die beiden meinten, ein organisches Molekül, das Sein und Werden des Lebens in allem erklären kann, m u s s  einfach schön sein.

So war es am Ende auch, in allem stimmig und dennoch einfach – nämlich einfach  w u n d e r s c h ö n.

  

Vor allem ist es schön, dass wir erkennen können

Nicht nur ein Molekül, so eins wie dieses, kann schön sein, auch die Erkenntnis an sich ist zum Wundern schön, somit also auch die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis.

Entscheidend ist, dass wir in unserer angemaßten Gottgleichheit verantwortlich mit unseren Erkenntnissen umgehen. Von wegen, keine Ahnung! Neuerdings sind mit der Genschere CRISPR CAS number nine***** Manipulationen an unserem Erbgut möglich. Hieße das, der Mensch demnächst nur so, wie er am besten sein soll? Also sein Sein bloß nach Design?  Doch was ist schon das Beste?

 


Eingangs: Ausschnitt aus einem plastischen Kalottenmodell, das die DNS/DNA als Makromolekül zeigt. Gemeinfrei.

Tänzerin Isadora Duncon in griechischer Pose mit Tunica, Szenenfoto gemeinfrei

Adonis, im Louvre, gemeinfrei

Kupferstich, Adam und Eva, Depot, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, alter Bestand, Abb. gemeinfrei.

Sandro Botticelli: Die Geburt der Venus, 1485 (Uffizien, Florenz), gemeinfrei

Eine von Rosalind Franklins Röntgenaufnahmen (ab 1951) von der DNS

Literatur: James D. Watson, Die Doppelhelix - Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur, Rowohlt, 1969*

* Quelle: Staatliche Kunstsammlungen Dresden

 

** Rosalind Elsie Franklin, geb. 1920, entstammte einer angesehen jüdischen Familie in London. Bereits siebzehnjährig bestand sie die Zulassungsprüfung an der University of Cambridge. Ihre Forschungszeit verbrachte sie später am King's College in London. Sie war auf ihrem Fachgebiet maßgeblich an der Erforschung der DNA beteiligt. Zumal sie permanent der Röntgenstrahlung ausgesetzt war, erkrankte sie an Unterleibskrebs. Sie starb bereits 38-Jährig, vier Jahre bevor Watson & Crick 1962 den Nobelpreis für die Entschlüsselung der DNA erhielten.

*** Die Patterson-Methode ist ein Verfahren zur Lösung des Phasenproblems bei der Röntgenbeugung. Sie geht auf Lindo Patterson zurück, der die Methode 1934 in die Röntgenkristallographie  einführte.

**** Wettlauf zum Ruhm" lautet auch der Titel der Verfilmung aus dem Jahr 1987 von Mick Jackson mit Jeff Goldblum und Tim Pigott-Smith.

***** Die CRISPR/Cas-Methode ist eine biochemische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern. Gene können mit dem CRISPR/Cas-System eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden, auch Nukleotide in einem Gen können geändert werden. CRISPR steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats. Cas9 (engl. CRISPR-associated 9) ist ein Enzym, in diesem Fall eine Endonuklease + einem Ribonukleoprotein aus Bakterien.