Unfertig wie wir sind und bleiben

 

Nicht von ungefähr führte der entwicklungsgeschichtliche Werdegang des Menschen vom fossilen homo erectus, dem „aufrechten“, zum gegenwärtigen „weisen Menschen“. Freilich steckt in der Kennzeichnung homo sapiens nicht nur ein hoher Anspruch, sondern auch ein Problem, zumal besagte „Weisheit“ nicht einfach als konstitutives Artmerkmal, also von Geburt an zum Menschen gehört. Wir sind nicht weise, wir werden weise. Auch das dürfen wir nur hoffen. Im Einzelfall ist es am Ende nicht einmal sicher.

Zur Frage, was den Menschen in seinem Wesen treffender als sapiens kennzeichnet, hat man in der anthropologischen Philosophie den Begriff des homo imperfectus geprägt, was soviel heißen soll, dass das Kennzeichen des Menschen das „Unfertige“, mitnichten Vollkommene sei.

Zugegeben, die uns hier als typisch nachgesagte „Unfertigkeit“ setzt sich recht negativ gegenüber dem wohlfeilen Attribut der Weisheit ab. Möglicherweise trifft aber die Feststellung der „Unfertigkeit“ unsere Wesensnatur viel genauer.

Tatsächlich fällt auf, dass wir – im Vergleich zu den Tieren  – bei unserer Geburt nur über wenige Fertigkeiten, allenfalls über einige elementare Reflexe zum ersten Überleben verfügen. Nicht gerade instinktlos, aber sehr arm an vorgefertigten, angeborenen Verhaltensmustern, müssen wir uns mühsam durchs Leben lernen, wohingegen die Tiere all das, was sie zur Bewältigung ihrer Lebenssituationen brauchen, schon gleich können. So können sie sich auf ihre entwicklungsgeschichtlich erprobte und ererbte Erfahrung ohne Bedenken – so bedenkenlos, wie es eben ihre Art ist – verlassen.

Allerdings wenn ein Igel nachts die Straße überquert und ein Auto hörbar heranfährt, rollt er sich zusammen. Bei ihm ist es in diesem Fall also nicht klug, sich auf Instinkte zu verlassen, die vor der Erfindung von Automobilen noch nützlich waren. Nicht mal durch Schaden werden Igel klug, denn den Schaden zu haben, heißt, bereits unter die Räder gekommen zu sein

Neuerdings sind es die Mähroboter, die nicht nur Tag und Nacht die Wiese von Familie Propper auf dem Niveau eines Teppichrasens kurzhalten. Für den arglosen Igel oft todbringend. Der niedermähende Schnitter mag uns an den allegorischen „Sensenmann" gemahnen. 

Was uns in unseren Eigenschaften so typisch menschlich macht, besitzen wir nicht, sondern müssen es erst erwerben, den aufrechten Gang inbegriffen. Auch die Sprache, unser besonderes Kennzeichen, ist nicht spontan vorhanden. Sie ist ein Produkt des sozialen Mutterschoßes". Überhaupt, wie wenig kommt am Anfang aus uns selbst! Letztlich ist es der gesellschaftliche Überorganismus, der unserem individuellen Organismus zur eigentlichen Menschwerdung verhilft.

In allem sind wir offen und noch keinesfalls festgelegt. Von den körperlichen Voraussetzungen erkennen wir beim Menschen keine herausragende Spezialisierung. Im Vergleich zu den zum Teil hochgradig angepassten Tierarten kommen wir über das Mittelmaß in der Regel nicht hinaus.

Im Hinblick auf den Mangel unserer Spezialisierung prägte seinerzeit der Verhaltensforscher Konrad Lorenz die These, wir Menschen seien durchaus Spezialisten, aber eben „Spezialisten im Nichtspezialisiertsein“. Damit kehrt sich vielleicht nach den bisherigen Negativaussagen die Bewertung ins Positive.

Sehen wir also das Unfertige als Chance. Unfertig und nicht durch Spezialisierung festgelegt sein, bedeutet, offen zu sein für neuartige, rasch änderbare Anforderungen. Diese Offenheit und Flexibilität beschert uns die menschengemäße Freiheit. Über sie verfügen wir lebenslänglich, soweit wir uns nicht darauf versteifen, dass alles so bleiben soll, weil es immer schon  war.

Der niederländische Mediziner Louis Bolk (1866-1930) hat darauf hingewiesen, dass sich die spezies Mensch gegenüber allen Tieren durch eine auffallende Neotenie" auszeichnet.

Dieser Begriff, der wörtlich übersetzt so etwas wie „Jungerhaltung“ heißt, ist nicht als jene vordergründig bekannte Fassadenwahrung und Faltenglattheit zu verstehen, die wir gerne angejahrten Personen als Kompliment ihrer ewigen Jugend" (younger than ever) nachgeben, sondern diese Neotenie" weist auf eine bemerkenswerte Infantilität des Menschen hin.

Hierzu muss man gar nicht erst die zahlreichen körperlichen Reifungsrückstände in der Entwicklung des Gesichtsschädels oder etwa des Beckengürtels aufführen, die den Menschen – im Vergleich zum Tier – wie ein ewiges Kind erscheinen lassen. Diese Äußerlichkeiten weisen nur auf etwas viel Wesentlicheres hin: Während bei Tieren die sensible Phase der Prägung oder aber auch bei höher entwickelten Formen die Zeit des Neugierverhaltens und der Lernbereitschaft nur eine kurze Lebensspanne ausmachen, – spätestens tritt bei ihnen mit dem Erreichen der Geschlechtsreife eine völlige Erstarrung des Verhaltens ein – behält dagegen der Mensch, im Alter naturgemäß mit abnehmender Tendenz, seine Neugier, seine Lernbereitschaft und Lernfähigkeit bis an sein Lebensende bei.

Wir lernen also mitnichten nur für die Schule, sondern ein Leben lang.

 

 

Schule ist nur der Anfang, nicht das Letzte. Schüler:insein ist kein Beruf, 

doch es zu bleiben und zu lernen, eine lebenslange Berufung.

 

Aufnahme aus dem Internatsmuseum Stift Keppel (E. Isenberg)