Der Schlaf der Gerechten

 

Meint das den verdienten" Schlaf, den tiefen und festen? Wenn's um die „Gerechten“ geht, möchte man an ein Bibelzitat aus dem Alten Testament denken. Dazu mochten sich Fromme zählen, die nach der Mizvot, den jüdischen Vorschriften lebten, während den Frevlern wegen ihres schlechten Gewissens kein ruhiger Schlaf beschieden sei. Doch nur indirekt lässt sich der Schlaf der Gerechten biblisch ableiten, vielleicht wenn es in Ps 4,9 heißt: „In Frieden leg’ ich mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, lässt mich  sorglos ruhen.“ 

Da gibt es tatsächlich das arglose Kind, das vorerst nur in seiner eigenen Gegenwart lebt, d. h. agiert aber auch schläft, noch weitgehend von Vergangenem und, noch weniger, von Zukünftigem belastet. Wieder einmal so schlafen wie ein Kind, tief wie eine narkotische Auszeit, aus der am anderen Morgen nichts erinnerlich bleibt, ist der Wunsch vieler Erwachsenen. Nicht dass sie nicht auch müde würden und ihnen die Augen zufielen, aber das Problem ist, zu welcher Zeit oder gar an welchem Ort.

Als ich im griechischen Korfu zur Mittagszeit durch die Gassen der Altstadt schlenderte – auf die Idee, das zur heißesten Tageszeit zu tun, kommen vermutlich nur Touristen – fand ich fast alle Läden verschlossen vor. Nur beim Tischler stand die Tür zum Werkstattraum sperrangelweit auf. Man sah den Meister auf den Hobelspänen, die sich um die Werkbank mächtig aufgehäuft hatten, ausgestreckt auf allen Vieren liegen. Den Mann hatte offensichtlich" der Schlaf übermannt, ein Bild des Friedens. Nicht so sehr den Ort öffentlicher Betrachtung als den Zeitpunkt sengender Mittagshitze hatte der Gerechte" durchaus zu Recht gewählt.

Leider wurden wir ein Leben lang auf eine bestimmte Zeit, wann wir zu schlafen haben, dressiert. Also Licht aus, Augen zu!

Das schreiende Kind in der Nacht ist in Familienkreisen erst leidlich akzeptiert, wenn es nachts endlich durchschläft, denn zu dieser Zeit sind die Erwachsenen gewohnt, so auch sie dressiert wurden, zu schlafen. So gehen wir als Erwachsene, ob wir müde sind oder nicht, abends, wie es uns geboten erscheint, zu Bett, denn morgens müssen wir ja wieder zeitig raus. Auf Kommando den Schlaf zu finden, bringt manch einen um denselben. Und dann noch der verstörende Wecker am Morgen. Oh, what a morning! Was für ein Tag! Ein Nickerchen zwischendurch täte uns vielleicht gut, – doch, von wegen!

Der Schlaf in zivilisierter Manier hat hierzulande erst eine Entwicklung durchlaufen müssen. Die Altvorderen legten sich einfach aufs Ohr oder wegen der weicheren Unterlage aufs dicke Fell, so man ein solches hatte. Wenn das Feuer am Eingang der Höhle verglomm, legten sich Männlein und Weiblein in der Art gleichgerichteter Löffel, so wie man sie später einmal in einer Besteckablage platzsparend anordnen würde, dicht aneinander. Das garantierte in den Nächten und in den Höhlen, die zwar kühl, doch im hinteren Abschnitt jederzeit frostsicher waren, die gemeinschaftlich erzeugte animalische Wärme gegenseitig aufrechtzuerhalten.

Gestelztes, über den Boden erhöhtes Meublement, also Betten, gab es anfangs noch nicht. Ein Bodenlager, mehr nicht. Das ändert sich auch lange Zeit nicht, allenfalls konnte an Stelle der Felle, die man erst einem Bären oder sonst einem erlegten Tier hätte abziehen müssen, auch Stroh als Unterlager dienen.

Weiß Gott, nicht nur das vermeintlich „arme Jesulein", immerhin eines Zimmermanns Sohn, lag seinerzeit auf Heu und Stroh. Auch eine Futterkrippe, die in ihren Abmessungen für einen Säugling passte, musste es gewiss nicht immer sein, es sei denn, in der Herberge vor Ort wäre mal wieder kein Platz gewesen. 

Wenn es heute noch heißt: „Nun aber ab in die Kiste!“ oder jemanden in die Kiste kriegen", so mochte es damals bedeuten, dass sich einer, womöglich noch eine weitere Person gemeinsam in die Kiste legten. So ein Lager hatte oft nicht mal einen eigenen Unterboden, sondern bestand nur aus einem Rahmen mit vier im rechten Winkel verzapften Brettern. Den Verschlag konnte man anheben und seitlich aufstellen, um unterdessen das Stroh, auf dem man schon etliche Nächte gelagert hatte, auszufegen und gegen neues zu wechseln. Eingerahmt in der besagten Kiste wurde das aufgehäufte Stroh einigermaßen beisammen gehalten, so dass in der Mitte nicht sobald wieder eine Liegekuhle entstehen konnte.

Später stopfte man das Stroh auch in Säcke, Vorläufer der späteren Matratzen. Bestenfalls wurde sowas mit Seegras gefüllt, das seiner Natur nach Feuchtigkeit und mit ihr den Muff des nächtlich schwitzenden Schläfers abweist. Aber es kam nicht nur auf den Inhalt an, auch äußerlich mochte so ein alter Sack" auf Dauer schmuddelig und unansehnlich geworden sein.

Selbst später lagen die Bewohner, als man schon Häuser errichtet hatte, noch zusammen, die ganze Sippe, in einigem Abstand das Gesinde, was ferner vom Ofen hieß, aber näher am warm ausdünstenden Vieh, das in den noch üblichen Wohnstallhäusern nachts und an Wintertagen innerhalb des Hauses eingestallt blieb.

Für die Eheleute, die ihr Beilager vollzogen, wurde eine „Butze“ abgesondert, ein „Alkoven“ (von alcoba, lt. cubare = liegen). Das war eine Bettnische, manchmal nur ein Schrankbett. Vorhang oder Klappe zu und eine gewisse Intimität war gewährleistet, so dass sich in dieser Art chambre séparée unbesehen, auch bei voll belegtem Haus, eheliche Interaktionen abspielen konnten. Die Bettnische lag nah zum „Döns“, dem Warmraum des Hauses, meist die Küche mit der Feuerstelle.

Überhaupt, wer nah am Ofen liegen konnte, war privilegiert. In der Nähe des Feuers zu schlafen, war allerdings, was die Atmung betraf, angesichts der konkurrierenden Sauerstoffzehrung auf Dauer nicht sonderlich gesund. Wenn zudem der Schornstein nicht zog – ursprünglich hatten die einfachen Katen überhaupt keinen Kamin – zog der Rauch durch das ganze Haus, bestenfalls zum Firstloch unter dem Dachgiebel heraus. In der rauchigen Luft fiel das Atmen vielen schwer. Selbst die Fliegen auf dem Vieh, das nebenan auf seinem eigenen Dung stand, hielten die Raumluft kaum aus. Freilich, auf die Plagegeister konnten Tier wie Mensch gut und gern verzichten. Somit hatte das Durchräuchern für die Hausbewohner auch einen Vorteil.

Doch bei unvollständiger Verbrennung entsteht zudem das Atemgift Kohlen(stoff)monoxid. Die Anreicherung, v. a. bei verzögertem und behindertem Abzug der Rauchgase, verhindert im Blut die Sauerstoffbindung, da das CO-Molekül im Hämoglobin der roten Blutkörperchen das zentrale Eisenatom besetzt. Auf Dauer treten erhebliche Folgeschäden auf. Auch konnte es tödlich enden. Gemeinhin zeigte sich auch hier, „Schlafes Bruder ist der Tod".

In einer Haus- und Schlafgemeinschaft gab es in der Regel zwei Fraktionen, die einen, die nach wie vor auf dem Boden lagerten, die anderen in Betten. Im Unterschied zu den heutigen Bettgestellen wiesen jene erheblich geringere Abmessungen auf. Man glaubte lange Zeit, dass dies auf die weit geringere Körpergröße der  Zeitgenossen im Mittelalter angepasst gewesen sei. Doch Kopf- und Fußende liegen noch heute nachmessbar derart nah beieinander, dass diese, wenn es so gewesen wäre, schon Zwerge hätten sein müssen.

Vielmehr war es damals ganz und gar unüblich flach zu schlafen. Stattdessen begaben sich die Menschen in eine halb aufrechte Sitzposition. Dass es gesünder sei, ging mit der Vermutung einher, dass beim Liegen zu viel Blut in den Kopf strömt, was nicht gerade förderlich ist, wenn man in seinem Hirnstübchen Ruhe eintreten lassen möchte. Zum Schlafen verwendeten sie daher mehrere Kissen, die sie am Kopfende übereinander stopften. So brauchte es für ihren abgewinkelten Körper auch nur eine kürzere Distanz bis zum Fußende.

Die Altvorderen erzählten zur Begründung für die Sitzhaltung im Schlaf allerdings noch eine andere Geschichte. Damit sich nächtlich der Alb", bezeichnenderweise ein albtraumhaft böser Naturgeist, nicht auf die Brust setzen könne, fiele er so von den halbaufgerichteten Schläfern gleich immer herunter, mit der Folge, dass diese viel freier atmen konnten.

In der Tat, als sie früher noch vor der offen befeuerten Herdstelle lagerten, wurde der Sauerstoff knapp und die Schadgase konnten sich anreichern. Darum war es ratsam immer wieder wach zu werden, um sich aufzurichten und tief durchzuatmen. Das war in den kurz bemessenen Betten, in denen man eh halbaufrecht saß, gewiss nicht ganz so nötig.

Natürlich halb aufrecht sitzend, was nur in Rückenlage praktizierbar ist, sinkt alsbald, wenn die Kiefermuskulatur in der Anspannung nachlässt, auch der Unterkiefer herab, bloß eine Frage der Schwerkraft. Und schon setzt lautes Schnarchen ein. Dabei wird nicht nur akkustich Knüppelholz", sondern auch Stammholz" zersägt. Im respiratorischen Takt belieben bekanntlich einige beim Ausatmen zu blasen, was unter Umständen heißt, durch die halbgeöffneten Lippen immer wieder zu pfeifen. Die aparten nächtlichen Atemgeräusche, an die man sich bei gleichförmiger Wiederkehr notgedrungen gewöhnen kann, sind nur dann verstörend, wenn sie gelegentlich aussetzen. 

Man weiß, dass Atmung ein unwillkürlich regulierter Vorgang im Wechsel von Einatmen und Ausatmen ist, insbesondere während des Schlafes. Normalerweise stellt nicht ein sinkender Sauerstoffgehalt den wesentlichen Weckreiz dar, sondern ein steigender Kohlen(stoff)dioxidgehalt im Blut und letzthin im Hirngewebe. Während eines vorübergehenden Stillstands der Atmung, einer Apnoe, steigt der Partialdruck des Kohlen(stoff)dioxids soweit an, dass durch diesen Atemreiz bald eine Weckreaktion mit heftigem Schnappatmen ausgelöst wird, bevor es wegen des abfallenden Partialdrucks des Sauerstoffs gar zu Anzeichen einer Ohnmacht kommen kann.

Ob es nun die Auseinandersetzung mit dem sagenhaft bitterbösen Alb" ist oder die Schwierigkeiten, die sich allgemein für die Aufrechterhaltung der Atmung im unbewussten Schlafzustand ergeben, selbst ein „Gerechter", der sich im Frieden mit sich und mit Gott und der Welt niedergelegt hat und sich in der Gewissheit wähnt, dass der Herr ihn sorglos ruhen lässt, auch er muss mit nächtlichen Störungen rechnen. Denn nächtliche Gefühle von Beklemmung und/oder Bedrückung kennen wir fast alle. Weiß Gott, nicht nur der „Frevler". Doch die nächtlichen Beklemmungen sind im Allgemeinen vorübergehend. Sie treten spontan, gleichwohl nicht immer grundlos auf. Dunkle Gedanken, Grübeleien und Schlaflosigkeit gesellen sich in der Folge oft dazu. Morgens, bei Licht besehen, ist der Spuk meist schon wieder verflogen.

 

 

Nächtliche Spukgestalten

 

Auf alten Bildern, die das sog. Albdrücken darstellen (s. oben), sieht man das Fabelwesen Alb" immer vorn auf der Brust unterhalb des ersten Rippenbogens sitzen, also genau da, wo auch heute noch der unangenehme Druck empfunden wird. Albträume rufen wie nächtliche Panikattacken körperliche Symptome wie Herzrasen und Schweißausbrüche hervor. Doch nach dem Erwachen kann man sich schnell wieder orientieren und man weiß, dass man nur geträumt hat. Als Herzklopfen wird es wahrgenommen, und als Reaktion auf den Albtraum erkannt, wohlwissend, dass es wieder vergeht. 

Anders ist die Bewusstseinslage beim „Nachtschreck“, der vor allem die Mitmenschen aufweckt, aber einen selbst, als wäre nichts gewesen, weiterschlafen lässt. Jener Pavor nocturnus macht sich mitunter durch einen gellenden Aufschrei bemerkbar. Alles geschieht in einer Art Halbschlaf. Er ist von Bewegungen begleitet, so der vom nächtlichen Schrecken Geplagte währenddessen oftmals heftig mit den Armen hin und her schlägt. Die Betroffenen sind in diesen Momenten nicht ansprechbar. Wenn der Spuk aber vorbei ist, schlafen sie wieder ein und können sich am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern. 

Gut so, denn auch der Gerechte" würde unter diesen Umständen seinem Herrn am anderen Morgen wieder mal danken können – für den nach eigener Wahrnehmung vermeintlichen Frieden der Nacht.

 

Gemälde „Nachtmahr“, Johann Heinrich Füssli (1802), gemeinfrei