Das erste Mal

 

Ich wollte schon immer mal Tagebuch führen. Doch es fehlte mir die Zeit für die Verschriftlichung in anspruchsvoller Prosa, zumal ich oft mit Dingen beschäftigt war, die mir damals vordringlicher erschienen. Von den ungeschriebenen Tagesrückblicken lassen sich viele Ereignisse im Nachhinein auf das wenige wirklich Erinnerungswerte des Lebens „eindampfen". 

Was jene destillierten Essenzen" anbetrifft, so erinnere ich mich vorzugsweise an die „ersten Male“. Eine dieser erinnerten Jugendsünden ist in meinem Elefantengedächtnis noch so präsent, als wäre das alles gestern erst gewesen. Wie gesagt, gestern, vielmehr damals, da war ich elf und es war das allererste Mal. Mir stellten sich folgende Fragen:  

H a t  K ü s s e n  F o l g e n ?  W e n n  j a,  w e l c h e? 

Das kleine Mädchen von Nebenan, das liebend gern meine Freundin sein wollte, war damals erst acht Jahre alt. In meinen Augen, der ich schon elf Jahre alt war, noch eine Minderjährige. Sie war nicht nur im Zustand kindlicher Unschuld, sondern besaß auch die Chuzpe, rittlings, mir gegenüber, auf meinem Schoß aufzusitzen, um mir, dem noch „unbedarften" Knaben, kess einen Kuss abzufordern.

An sich wollte ich mich auf „Weiber“ gar nicht einlassen. Auch wenn sie nicht Eva hieß, kam es gleichwohl zum Sündenfall. Sie fragte mich: „Hat dich schon mal eine Frau geküsst?“

„G e k ü s s t ? Du denkst ... ? Nein, bloß nicht!" Ich war sprachlos und überlegte: „Meinst Du vielleicht von meiner Mutter?“ Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht von meiner Oma?“ – Auch das verneinte sie und grinste dabei. Mir schwante, dass die Kleine durchaus wusste, was sie genauer wissen wollte, mit wem und wie. Nur ich, der Große, wusste in meiner Unbedarftheit nicht, auf was ihre merkwürdige Frage konkret hinauslief. – Als Letztes fielen mir meine Tanten ein. Ach was! Ich meine richtig. Nicht nur so einen Schmatz. Einen richtig langen und saftigen Kuss.“ 

„Bloß nicht saftig!“, dachte ich bei mir. Kaum hatte ich mich versehen, ergriff die Kleine mich bei den Ohren und zog sodann mich nah zu sich heran. Mit einer leichten Kopfneigung zur Seite – der sperrigen Nasen wegen – war sofort der lippendichte Kontakt hergestellt. Ich konnte nichts mehr sagen. Versuche, nach hinten auszuweichen, verhinderte sie dadurch, indem sie ihre Arme hinter meinem Kopf verschränkte.

 

 

Es war wie die rote Nacktschnecke, die ich letztens – auf einen Groschen gewettet – über meinen Arm hatte kriechen lassen. Doch war es jetzt viel wärmer und irgendwie auch schöner.

Unter dem gegenseitigen Andruck entstand jene Wässrigkeit, die ich sonst eher abwischte, vor allem, wenn mich meine Tanten herzten. Wie überwältigt war ich doch immer, wenn sie zu Besuch kamen und bei der Begrüßung sich auf mich, „den, ach, so süßen Bub" stürzten, um sich lüsternd mit geschürztem Kussmaul bei mir einzuschleimen.

Nun aber hatte ich mich noch einmal überwunden, da auch die minderjährige Kleine meine zunächst abwehrende Haltung schon erfolgreich überwunden hatte, und gab mich der feuchten Verschmelzung hemmungslos hin.

Und tatsächlich, dank der mit Nachdruck aktivierten Sekretion knutschte es sich zwischen uns beiden bald wie geschmiert. Es hielt erstaunlich lange an, – das angenehme Gefühl. Ich hing an ihren Lippen und merkte, wie auch sie zu schnuckeln begann. Die Verhaltensforschung, so lernte ich später, deutet diese Art zu schnäbeln als Basisinstinkt einer archaischen Mund-zu-Mund-Fütterung, wobei der eine vorkaut, was der andere hinunterschluckt.

Freilich, der ritualisierte Schlingakt verlangt viel Feingefühl, damit „zum Fressen gern“ nicht zum Abbeißen misslingt. Bei der Konzentrierung auf so viel Gefühl hielten wir beide die Augen geschlossen. Überhaupt hatten wir jegliche Wahrnehmung um uns herum eingestellt. In dieser Gefühlslage war uns nur das Zeitgefühl abhandengekommen.

Plötzlich schallte es von weitem: „Kind! Nein, was machst du bloß?“ Die Mutter der Kleinen, die mich zu einem ersten richtigen Kuss verführt hatte, befahl ihrer Tochter umgehend ins Haus zu kommen.

Folgsam hüpfte sie von meinem Schoß, nicht ohne schnell noch die Frage zu stellen: „Kriegt man eigentlich Kinder vom Küssen?“ 

Sie verschwand und ich blieb mit einem bislang unbedachten Problem zurück. Sollte die frühreife Kleine, die mir so feuchtforsch den Kuss abgerungen hatte, möglicherweise ahnungsvoller gewesen sein als ich, der ich doch schon drei Jahre älter war? Gewiss, Männer brauchen immer einige Jahre Vorsprung, pflegte meine Mutter zu sagen.

Ich entschied, in dieser fragwürdigen, aber höchst heiklen Angelegenheit vorerst abzuwarten, denn die Antwort würde sich zur gegebenen Zeit schon zeigen. Allerdings, so ganz geheuer war mir nicht dabei, allein der Gedanke, wenn es tatsächlich eintreten sollte. Jedenfalls, meine Ruhe war hin, mein Herz tat sich schwer.

Nach einigen Wochen verzog das Nachbarmädchen mit ihren Eltern. Das war zwar nicht die Lösung des Problems, aber es schaffte jene räumliche Distanz, die den Urgrund der befürchteten Folgen aus dem Blick geraten ließ.

Wie aus den Augen, so aus dem Sinn wäre es auch mir fast schon geraten, wenn sich nicht eines Tages Sonderbares eingestellt hätte. Was Haariges wuchs an mir, das ich so nicht erwartet hatte, vor allem nicht an dieser Stelle. Warum sollte mir ausgerechnet dort, fragte ich mich, ein Fell wachsen?

Als nun auch auf meinem Schopf die Haare zu fetten anfingen, der Achselschweiß zu riechen begann, sich Hautrötungen entzündeten, zudem mein reiner Knabensopran in den niederschmetternden Sound einer überblasenen Tröte umschlug, mutmaßte man in meiner Umgebung, dass ich wohl in die Pubertät kommen tät‘.

Ich wusste damals noch nicht, was dieses Wort bedeutete, aber es schien ein Zustand eingetreten zu sein, über den die Erwachsenen für mich und sich selbst ihr Bedauern aussprachen. Keiner sprach mehr von dem „ach, so süßen Bub".

Was mochte bei mir als Knabe Auslöser der merkwürdigen Körperveränderungen sein? Sollte ich etwa zum Manne reifen? Auch ich nun fruchtbar? Das wäre ja furchtbar.

Der feuchte Kuss von einst!? In meiner Erinnerung stieß er mir wohl oder übel wieder auf. Sollte angesichts meiner untrüglichen Reifezeichen der Kontakt mit einem Mädchen am Ende doch nicht folgenlos geblieben sein? Ich dachte an so eine Art unerwünschte Vaterschaft. Unter welchen Umständen" sollte das möglich sein? Kinder, darüber war ich mir allerdings sicher, können nur die Frauen bekommen. 

Das Leben lehrte mich Gelassenheit, das hieß, auch hier wartete ich zunächst erstmal ab. Manche Probleme, wie man aus Erfahrung weiß, lösen sich von selbst – oftmals, weil es sie vielleicht, wie auch in diesem Fall, gar nicht gegeben hat.

 

Foto: E. Isenberg