Wohl oder übel, das Auge isst mit

 

In der mit Herz und Hirn zubereiteten Sülze isst man, wie Experten wissen wollen, auch gelegentlich mal ein Auge mit, zumal es einem wegen der zerkleinerten Fleischeinlage nicht sonderlich ins Auge sticht. Darüber hinaus fördern noch weitere Fern- und Nahsinne, wie das Riechen und das Schmecken, den Appetit. Doch wie der Mensch im Vorhinein übers Essen denkt, wird gelenkt schon durch den ersten Anblick. So ist das bunte Bild auf der Tütensuppe meist appetitlicher als nachher der aufgebrühte Inhalt.

Auch bei mir war der optische Eindruck des Essens entscheidend für dessen Akzeptanz, gleichwohl die Nahrung auf ihrem Weg und letzten Endes in einen unansehnlichen Zustand übergeht. Ein früherer Bundeskanzler meinte, „entscheidend sei, was hinten herauskommt“. Doch meines Erachtens macht in diesem Endstadium Grün- oder Rotkohl keinen Unterschied. Götterspeise, ob Waldmeistergrün oder Kirschrot, kam meines Wissens überhaupt nicht hinten heraus. Vielleicht über die Nieren beim Wasserlassen, jedoch entfärbt und fast immateriell, wie gemeinhin das, was der Mensch – heißt es doch „Götterspeise" – „unfassbar göttlich“ nennt.

Wenn in meinen jungen Jahren über mein Bemühen, auf dem Teller Fleisch, Soße und Gemüse getrennt zu halten, von meinen Mitessern gelästert wurde, mit dem Hinweis, dass im Magen sowieso alles durcheinanderkomme, ließ ich mich keinesfalls davon abbringen. Manchmal hätte ich mir einen Teller mit drei Fächern, wie man’s gewöhnlich bei der Schnellabfütterung in Kantinen vorsortiert bekommt, auch für Daheim gewünscht. Denn getrennte Nahrung hieß, Unterschiedliches als Unterschied zu schmecken.

Diese bewussten Wahrnehmungen wollte ich mir gut behalten. So wüsste ich, was mir schmecken würde oder von dem ich mir beim nächsten Mal/Mahl lieber nicht so viel auf den Teller geben lassen sollte. Denn was erst mal auf dem Teller lag, „chacun à son gout" (das war bei uns so Sitte), musste auch aufgegessen werden, nach der Devise: Iss den Teller auf! – Wer aber mag schon Teller essen?

Hingegen heute bevorzuge ich mein Essen zu vermengen. Mit zunehmendem Alter lieb ich es, beim Kartoffelbrei und Wirsing es „wirrsinnig“ durch und durch zu manschen". So angerichtet – man könnte auch sagen: zugerichtet – leistet sich meine Lebenserfahrung, gewonnen aus den fein sortierten Geschmackswahrnehmungen früherer Tage, eine neuartige, nunmehr ganzheitliche Komposition. Wie schön, wenn es auch in dieser Gemengelage, also durch und durch, noch kunterbunt und appetitanregend aussieht. Die Zeit, dass dereinst alles haschiert und zu einem Einheitsbrei püriert wird, ist vorerst noch nicht gekommen.

Als zuletzt mein hochbetagter Vater nur noch über eine Magensonde ernährt werden konnte, betrachtete er vorher immer auch das bunte Bild von seinem köstlichen Mahl im Urzustand, das den Infusionsbeuteln beigegeben war. Zumindest der Anblick mochte ihn auf den Geschmack bringen, denn um eben den, der Umleitung wegen, wurde seine Zunge ja betrogen.

Als Kind unterschied ich beim Mittagessen zwischen dem „Vernünftigen“, dem Pflichtessen, wie es die nahezu täglichen Kartoffeln waren, und jener Fleischeslust, an die man sich auch im Rückblick auf die Wochentage immer noch erinnern konnte. Doch auch die Tage, wenn es Milchreis gab oder Pfannekuchen, zählten bei mir.

Darüber hinaus gab es das „Unvernünftige“. Damit war jene „Kür“ nach der „Pflicht“ gemeint, die gemeinerweise erst nach allem aufgetischt wird, so man’s auch „Nachtisch“ nennt, wenn man eigentlich schon satt wäre. Noch einen Tupfer Sahne oder Himbeergelee oben drauf – Heißa! Da ging einem nicht nur das Herz, sondern gleich noch mal der Mund auf.

Weil es eine ausgesprochene Augenweide war, erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter einmal das obere Käppchen von einem gekochten und gepellten Ei abgeschnitten und an dessen Stelle eine halbierte Tomate aufgesetzt hatte. Als dann noch einige Tupfer Mayonnaise darauf verteilt wurden, war der Fliegenpilz perfekt. Dass allerdings diese schmucke Sorte Pilz ansonsten hochgiftig ist, so dass sie in einem gesüßten Milchauszug Fliegen tötet (daher der Name) oder auf Grund der psychotropen Wirkung Hexen glauben macht, sie könnten mittels Besen zum Blocksberg fliegen, hat mich keinesfalls davon abgehalten, herzhaft hineinzubeißen.

Selbst heute, als Mann im reiferen Alter, garniere ich die Wurst- oder Schinkenscheiben immer noch mit Remouladentupfer in geometrischen Anordnungen. Auch überhängende Käsescheiben sind mir ein Graus. Wie sieht das aus? Ich schneide die Teile stets säuberlich ab und verwende sie dazu, mit ihnen die noch unbedeckten Stellen auf der Brotunterlage zu belegen. Die Scheibe Wurst und das Knäckebrot, was heißt, das Runde aufs Eckige" zu bringen, ist kunstvolle Intarsienarbeit. Jedes Mal eine Herausforderung.

Was soll’s? Das Auge isst wohl oder übel immer noch mit.

 

Nach einem Essay des Autors in seinem Buch: Himbeerbonbons – heile Welt in einer noch wunden Zeit, Kindheit in den Nachkriegsjahren, Breslau 2020

Foto: E. Isenberg