Eine Frage der Mobilität

 

Am Anfang ging es, wenn es ging, dass man gehen konnte, zu Fuß. Wie auch sonst? Gewiss, das Kleinkind krabbelt, wie es so geht, zunächst halt quadruped, auf allen Vieren. Doch wie die Menschheit, in die es hineingeboren wird, einst den aufrechten Gang entwickelte, geht am Ende ein jeder artgemäß, das heißt, erhobenen Hauptes seines Weges. Deswegen überlegten Vertreter unserer Spezies – die sich selbst den Namen homo sapiens gaben und sich damit als weise bezeichneten –, ob es nicht noch anders ginge. Von frühen Kindesbeinen an gewohnt, auf den Arm genommen zu werden, müsse es doch möglich sein, etwas zu finden, was einen weiterhin weithin trüge. Vielleicht ein Wesen auf vier Beinen. So saßen schon die Altvorderen auf den Rücken der Pferde und durcheilten wie weiland die Hunnen die Weiten der Steppen.

Vom Pferd, sollte es arg schaukeln, kann man jedoch herunterfallen oder sich im Sattelleder einen Wolf reiten. So setzten sich jene, die sich einen Wagen leisten konnten, in einen solchen und ließen sich darin ziehen. Schließlich war das Rad auch schon erfunden.

Jahrhunderte später verstand man es, das Zugpferd durch einen Motor durchaus mit Pferdestärken zu ersetzen. Diese selbstbeweglichen Gefährte nannte man  A u t o mobile. Die noch immer so genannten Kotflügel, ein Sprachfossil aus jener Zeit, zeugen davon, dass einst verhindert werden sollte, dass dem Wagenlenker die „Pferdeäppel“ um die Ohren flogen.

Schon merkwürdig, selbst an den weißgestrichenen Korbkinderwagen, in denen auch ich in der Nachkriegszeit vor der Vervollkommnung meiner aufrechten Gehweise geschoben wurde, gab es solche Kotflügel. Wozu auch immer, frag ich mich im Nachhinein, geriet der Kot beim Kleinkind, das noch in Windeln lag, doch selten auf die Straße.

Nach dem letzten Weltkrieg, dem zwischenzeitlichen Niedergang der zivilisierten Menschheit, als der homo sapiens unter dem gröFaZ (dem größten Führer aller Zeiten") nicht mehr ganz gescheit zu sein schien, wurde er wieder auf seine eigenen Füße verwiesen. Heimkehr und Flucht, zu Fuß. Wie sonst? Pferde waren rar geworden. In keinem früheren Krieg als dem letzten – man mag’s kaum glauben, dass der Fortschritt noch immer auf vier Beinen voranschritt – waren so viele Pferde im Einsatz gewesen.

 

Der Hauptmann voran (Bildmitte) reitet mit seiner Kavallerie gen Osten.

 

Auch wenn im Zweiten Weltkrieg bei der Wehrmacht LKWs und Panzer eingesetzt wurden, so waren es doch immer noch zahlreiche Pferde, auf deren Rücken mal wieder alles ausgetragen, mittels Karren transportiert und eben solche aus dem Dreck gezogen wurden. Das hielt auf Dauer kein Pferd aus. Wenn es am Ende in Teilen auf dem Teller landete, so war es sein letzter nützlicher Dienst für die darbende Menschheit.

 

Treck zurück gen Westen

 

Als es dann in Massen zur Flucht kam, musste sich der stolze Mensch selbst vor den Handwagen spannen lassen und seine kümmerliche Habe oder sein Liebstes, sein eigen Fleisch und Blut, die Kinder oder die lauflahme alte Oma hinter sich herziehen. Wohl dem, der in diesen flüchtigen Tagen einen „Bollerwagen“ hatte. Wer aber noch ein Pferd vor ein Fuhrwerk spannen konnte, durfte sich später vielleicht Spediteur nennen. Über ein Pferdegespann führte die Nachkriegskarriere oftmals steil zum Unternehmer, zumal er auf diese Weise die Wirtschaft wieder in Schwung brachte.

Auch Anfang der 50er-Jahre ging’s noch immer nicht ohne Pferdegespanne. So sorgten beispielsweise für die Anlieferung des Kneipenbiers – in Holzfässern, versteht sich – schwere Brauereipferde. Da man sie mit der „Plempe" tränkte, die beim Abfüllen des Fassbieres verspritzt und an Ort und Stelle in einer Rinne gesammelt wurde, roch auch ihr Piesel, den sie unterwegs auf das Straßenpflaster brunzten, nach Bier. So ein Gebräu ist bekanntlich harntreibend.

Die Bierwagen, die im hinteren Teil der Wagenfläche Wassereis in Stangen mitführten, zogen ebenso dröppelnd, vor allem wenn im Sommer die Sonne das Eis antaute, eine Spur der Inkontinenz hinter sich her.

Wenn’s dann früher hieß: „Der Eismann kommt!“, so gab es für uns Kinder nichts auf die Waffel. Stangeneis wurde ausschließlich zum Kühlen der Bierfässer oder in Eis-Schränken verwendet. Damit den Trägern die geschulterten Eisstangen nicht ans Ohr anfroren, hatten ihre Jacken weite Lederkragen, die sie seitlich am Hals hochschlugen.

Auch der Milchmann am Ort brachte die Milch – frische Milch", wie es die Aufschrift verhieß – in einem weißgestrichenen Kastenwagen zu den Kunden. Weiß reflektiert das Sonnenlicht. Eine elektrische Kühlanlage gab‘s noch nicht.

Von Haus zu Haus hieß es für das Kaltblut vor dem Gespann anrucken und gleich wieder stehen bleiben. „Brrr!“ Und wenn die Milchkännchen gefüllt waren und der Kundenschwatz geendet hatte, ging es mit „Hü! Hott!“ erneut weiter. Doch manchmal wollte der alte Klepper nicht mehr vorrucken. Nach langer Fahrt und bei Gewitterschwüle war die Milch auch schon mal sauer geworden – der alte Milchmann ebenfalls.

Ein anderer seiner Zunft, der ein anderes Straßenrevier mit Milch versorgte, hatte sich bereits ein Dreiradauto zugelegt. Es war ein Tempo Hanseat". Doch mit Tempo war da nichts, nicht mal erwünscht, zumal auch dieses Gefährt immer wieder anhalten und anfahren musste. Immerhin, für das Fahren eines Dreiradautos brauchte es damals keinen Führerschein.

Jener Milchmann öffnete, um nicht immer den Motor neu starten zu müssen, während der Fahrt die Autotür, die mit ihrem Scharnier hinten am Rahmen angeschlagen war, so dass er nach vorne einen Fuß auf die Straße herausstrecken konnte. Auf der Beifahrerseite tat desgleichen seine Gattin, und zusammen mit ihren auf beiden Seiten pendelnden Füßen bekam das Dreirad im Leerlauf Anschub. Freilich, bei stärkerem Gefälle bekamen die beiden, wenn es um das vorsorgliche Abbremsen ging, auch schon mal heiße Sohlen. Immerhin trieb eine Masse Milch, vor allem wenn das Gefährt noch vollgeladen war, zu Tale.

Die Motorisierung, nach einem verhaltenen Anfang in der Nachkriegszeit, kam in Bewegung. Viele Autos, auch von Privatleuten, waren für den Krieg requiriert worden und dort, wie zu erwarten war, zu Schrott gefahren. Für ein neues fehlte den Leuten vorerst das Geld.

Mein Vater, der als Arzt bis dahin noch immer mehrere Kilometer in den Nachbarort zu Fuß zum Krankenhaus eilen musste, überlegte sich, endlich doch ein Auto anzuschaffen. Auch bei Hausbesuchen drängte es oft. Hausgeburten waren damals noch üblich. Zumal die Frauen nicht zu einer Voruntersuchung kamen, war es jedes Mal eine Überraschung, wann und was unter großem Wehgeschrei im nächsten Augenblick auf dem Küchentisch (praktischere Arbeitshöhe, Nähe zum Wasserhahn) unter Nachdruck pressierte.

Frühjahr 1950 machte mein Vater einen Führerschein. Die Fahrerlaubnis bekam er, obwohl er auf seiner Prüfungsfahrt auf den letzten Metern beim Einbiegen in den Hof der Fahrschule an dem ehemaligen Wehrmachtsauto das Ventil vom Holzvergaser abgefahren hatte. Egal, dem Relikt aus Kriegszeiten war eh keine Zukunft mehr beschieden, zumal es bald wieder Benzin gab. Daher wurde umgehend ein Auto angeschafft.

 

„Brezelkäfer“

 

Ein Volkswagen, was sonst? Unser erster war von jener Sorte, die man als „Brezelkäfer“ bezeichnete. Der Spitzname für das Modell, das in dieser Art noch bis 1953 gebaut wurde, entstand in Anspielung auf das kleine zweigeteilte Heckfenster mit Mittelsteg, das entfernt an einen Brezel erinnert. Die Teilung des Fensters war nötig, weil gebogenes Glas, das sich dem gewölbten Heck hätte anpassen müssen, in der Anfangszeit des Volkswagens zu aufwändig bzw. zu teuer gewesen wäre (Gesamtpreis für einen VW 1951: 4.800 DM). Auch das Frontfenster war eine durchgehende gerade Scheibe, so dass man geradewegs bei einem Aufprall, zumal es damals noch keine Sicherheitsgurte gab, mit dem Kopf durch die Fensterscheibe gehen konnte. Sonst, was das Blech betraf, war im „Buckelporsche“ alles rund gewölbt, auch vorne, unter der Haube passte kein eckiger Koffer.

Zur Position des Motors beim Käfer kursierte seinerzeit ein Witz unter dem Motto Frauen und Technik", die Infragestellung  eines damals noch gern gepflegten Vorurteils: Steht eine Frau mit ihrem Käfer (oder war es der ihres Mannes?) am Straßenrand. Das Auto fuhr nicht mehr. Als sie vorne die Autohaube öffnete, fasste sie sich verständnislos an den Kopf. Eine vorbeifahrende Geschlechtsgenossin, die ihre verzweifelte Situation erkannte, hielt an, um ihr beizustehen. „Stellen Sie sich vor", sagte sie zu ihr: ich mache vorne die Klappe auf und sehe, da ist überhaupt kein Motor drin". „Ach, das macht nichts", sagt die freundliche Anhalterin, ich kann ihnen aushelfen, denn in meinem Käfer habe ich hinten noch einen Motor".

Kurz gesagt, der Motor aller Käfer befand sich hinten auf der Antriebsachse. Der Tank hingegen war vorne eingebaut. Einen Anzeiger für dessen Benzinfüllstand gab es anfangs noch nicht. Wenn der Tank leer war – das merkte man erst, wenn der „Käfer“ schwächelte, meist mitten auf der Kreuzung –, musste man unten über den Pedalen einen Hebel ziehen. Dann wurde die Reserve im Tank freigegeben und es reichte noch für ein paar Kilometer bis zur nächsten Tankstelle. Davon gab es damals noch fast an jeder Ecke eine. Dort wurde in Zapfsäulen das Benzin zunächst in Handarbeit – damals gab es noch Tankwarte zur Bedienung – in einem Glaszylinder hochgepumpt, so dass man durch das Schauglas kontrollieren konnte, ob blasenfrei gezapft war. Dann ließ man den Inhalt über einen Schlauch in den Tank ablaufen. Der war beim „Käfer“ vorne unter der Haube. Ob er voll war, zeigte ein Messstab an. Eingetunkt in den Tank konnte man anhand der Benetzung den Füllstand ablesen oder auch nur erahnen, denn Benzin verflüchtigt sich rasch.

Der hiesige Auto-Händler machte mit meinem Vater zunächst eine Probefahrt und stellte das Auto anschließend vor unserem Hauseingang ab. Da stand es nun. Natürlich wollten wir Kinder auch gleich mit dem neuen Auto herumgefahren werden. „Nur einmal um den Block!“, bettelten wir.

Vater, der sich über sein Auto riesig freute, war sofort bereit. Doch Mutter sagte: „Nicht doch, nein!“ und meinte, er solle am Anfang erst mal ohne Kinder fahren, – wenn er‘s dann richtig könnte. „Wieso?“, meinte mein Vater, „Autofahren kann ich doch. Das habe ich jetzt schriftlich.“

Kurz über lang saßen er und wir im neuen Auto. Doch das Auto fuhr nicht. „Ging doch eben noch!“, haderte mein Vater. Gewiss, dachte Mutter, die noch im Haus zurückgeblieben war: „Da sieht er’s mal! Fahren kann er – und wie er fährt! Halt gar nicht. Gottseidank!“

Das Auto ruckte an, stotterte und im nächsten Moment soff der Motor wieder ab. Das passierte mehrmals. Mutter habe, wie sie hinterher erzählte, gebetet: „Lieber Gott, lass das Auto nicht losfahren, nicht mit meinen Kindern!“

Unterdessen klopfte ein Patient, der sich einige Zeit das hupfende Auto angeguckt hatte, an die Scheibe des Seitenfensters und fragte: „Herr Doktor, haben Sie mal versucht, die Handbremse zu lösen?“ Genau das war’s. Der Wagen schoss nach vorne und oben am Fenster sank meine Mutter in die Knie und fühlte sich vom Herrgott hart geprüft. Wir Kinder aber fanden es toll.

Danach galt fortan getreu der Volkswagen-Werbung: „Er läuft und läuft und läuft." Wieder mal, im Sinne der Überschrift zu diesem Beitrag, war auch hier eine Frage der Mobilität" gelöst. 

 

Fotos: Privatsammlung Isenberg