Als ich eine Weile wählerisch in den Kühlschrank schaute, sagte man mir: „Überleg nicht so lange, denk vorher nach! Das spart Strom.“ Ich sinnierte über die Forderung „vor"-her „nach"-zudenken.
Nachdenken heißt eine Entscheidung im Nachhinein zu bedenken und zu begutachten. Auch wenn‘s nicht gut, was wir dachten, zu erachten war, kann man es anschließend, wenn sich die Gelegenheit ergibt, wieder verwerfen. Solange es sich nur in unserem Denken bewegt hat, sind wir frei („Unsere Gedanken sind frei ..."). Wie mit der delete-Taste ist der zunächst gedachte Nonsense rasch gelöscht. Doch wenn von anderen erst einmal gesehen ist, was von uns „vor"-bedacht und daraufhin geschehen ist, so ist es offenkundig. Shit happens oder altdeutsch: dumm gelaufen. Wenn der Artist unter der Zirkuskuppel neben das schaukelnde Trapez greift, kann er daraufhin nur noch völlig „danebenliegen“.
Was unbedacht oder falsch war, aber noch nicht vollzogen wurde, kann durch „Re"-flexion neu oder durch die gewonnene Erfahrung besser bedacht und noch einmal gemacht werden. Immerzu spricht man vom „Nach"-denken. Wie wäre es bei Gelegenheit mal mit „Vor"-denken? Beides gehört zusammen. Nur durch „re"-flektierte Erfahrungen kann man erfolgreich „vor"-denken und mit einiger Gewissheit da-„nach" handeln.
Der Mensch, solange er bewusst lebt, entwirft in einem fort Hypothesen. Hypo (gr. unter) bezeichnet den Rang der Thesen als vorläufige Unter-Stellung. Oft sind es Schnellschlüsse, die wie Schüsse auch daneben gehen können. Gleichwohl gehört Suchen und Erkennen von Regelhaftem zu unserem Naturell, zumal es in der Regel im anwendbaren Fall lebenspraktisch sein kann. Es sind die „Wenn-Dann-Beziehungen" (Wie der Säugling lernt, immer wenn ich schreie, wird mein Nahrungsbedürfnis gestillt oder andere Unpässlichkeiten beseitigt. Natürlich ist es nur am Anfang so simpel.) Später erkennen wir weitaus komplexere Zusammenhänge als richtig und wichtig. Doch es geht nicht nur um die Verifikation (Was ist wahr, was bestätigt unsere Annahme, welche Gründe lassen sich anführen?), sondern ebenso, wenn es um die ausnahmslose Verallgemeinerung geht, um das Falsifizieren*, (Sollte es denn immer so sein? Wenn nicht, was dann? Nur eine einzige Unstimmigkeit bringt die Theorie im Ganzen zu Fall. ) ein dialektischer Denkprozess, der uns der Wahrheit, also Wirklichkeit, ein Stück weit näher bringt.
Im nicht nur vegetativen Dahinleben sind Erkenntnisgewinne, gleichsam „gelernte" Anpassungen, für die Flexibilität im Überlebenskampf nützlich, gar von Vorteil für eine höhere Fitness im evolutionären Sinne.
Nicht anders, bei unseren Ahnen, den noch in Bäumen hangelnden Primaten. Fitness beziffert sich im Erfolg der Reproduktion der eigenen Gene, zunächst das Überleben ihrer Träger und deren Fortpflanzung. Bei ihnen waren im Laufe ihrer Evolution zunächst die vorderen Gliedmaßen im Vergleich zu den hinteren länger geworden. Anfangs sind es Zufälle gewesen, Mutationen, die sich im Erfolgsfall erblich „mani"-festieren. Die unter den damals obwaltenden Bedingungen verbesserte Fitness derart mutierter Varianten erwies sich als vorteilhaft für ihr Fortkommen, in dessen Folge auch für ihre Vermehrungsrate, im Sinne von „weiterhin so" und „mehr davon".
Bewegen sich höherentwickelte Pongiden, wenn sie nicht vorwiegend, wie sonst, von Ast zu Ast hangeln und schwingen, auf dem Boden fort, stützen sie sich dabei auf ihren Handrücken auf. Dort bilden sich bereits Schwielen. Was ihre Beine betrifft, die zunächst, wie schon gesagt, vergleichsweise kürzer als die Arme sind, so nehmen sie bereits eine halbaufrechte Stellung ein. Diesbezüglich zeigen sich beispielsweise Gibbons besonders ungleich in den Längen ihrer Vorder- und Hintergliedmaßen. Sind erst ihre Hinterbeine eingeknickt, ist es selbst bei einer Fortbewegung am Boden und dort auf allen Vieren ein Leichtes, sich bei Bedarf aufzurichten.
Orang Utan (malaiisch für Waldmensch)
Darstellung aus dem 19. Jahrhundert
Dass sie keine dauerhaften Aufrechtgänger sind, zeigt sich allerdings am typisch „knickebeinigen" Affengang, bei dem die Beine auf beiden Seiten stets eingeknickt bleiben. Mit Ausnahme tapernder Greise, deren knirschende Kniegelenke die Streckung nur ungern „verschmerzen", würde man diese Art zu gehen bei einem noch nicht gealterten Menschen gewiss nicht als Schreiten bezeichnen. Hierzu braucht es ein Abwechseln von eingeknicktem Spiel- und durchgestrecktem Standbein.
Mit einer leichten Gesäßverlagerung kann sich ein Hominide der noch affigen Art schon jederzeit aufrichten, um beispielsweise mit den längeren Armen zu einem Ast zu langen. Seine Hände mit dem zurückversetzten Innenfinger, zumal er sich als Daumen gegen alle übrigen Finger der Hand krümmen lässt, erleichtern den Zugriff, das Festhalten aber auch das Wiederloslassen. Und im Nu hangelt der Brachiator, womöglich in affenartiger Geschwindigkeit, von einem Ast zum nächsten.
Für diese hangelnde Fortbewegungsweise braucht es außer den längeren Armen und den greiffähigen Händen noch weitere Voraussetzungen. Vor allem ein räumliches Sehvermögen. Das gelingt, wenn zwei Augen nach vorne gerichtet sind. Durch ihren Abstand ergeben sich bei der Betrachtung eines Objekts zwei mehr oder auch minder verschiedene Ansichten. Experten sprechen in einem solchen Fall von Parallaxe. Je nach deckungsgleicher Übereinstimmung oder im anderen Fall, bei perspektivischem Unterschied, kann das Gehirn die etwaige Divergenz der Bilder, die auf der Netzhaut beider Augen entstehen, in die Entfernung des anvisierten Objekts umrechnen. Die stereoskopische Wahrnehmung ist also wichtig, um vorab einen ausreichenden Schwung vor dem Absprung zum nächsten Ast kalkulieren zu können. Sonst geht’s schon von Anfang an am Ende daneben.
Im Unterschied zu den Primaten hat ein Eichhörnchen, das sich ebenfalls geschickt durch ein Baumbiotop bewegt, die Augen seitlich ausgerichtet. In Ermangelung eines räumlichen Sehvermögens muss so ein „Eichkatzerl“ aufs Geratewohl losspringen. Wenn’s bei der Sprungweite nicht passt, kann es mit seinem Schwanz, der noch mal so lang wie der Körper ist, durch seitliche oder auf- und niederschlagende Ruderbewegungen die Sprungbahn korrigieren. Mit seinen feinen, aber scharfen Krallen springt es den Ast meistens nur kurz an, um sich nach dem oberflächlichen Kontakt zum nächsten Sprung gleich wieder zu lösen. Und wenn es unausweichlich mal danebengehen sollte, kann das leichtgewichtige Eichhörnchen mit gespreizten Haaren an Schwanz und Körper fallschirmartig herabgleiten, so dass es am Boden nicht hart aufschlägt. Viel Verstand braucht es dazu nicht, allenfalls Reflexe. Allerdings, als Vorstufe zur Menschwerdung, d. h. zur Entwicklung einer höheren Intelligenz hätte das kaum getaugt.
Schwanzlänge = Körperlänge, Augen seitlich ausgerichtet
Beim hangelnden Affen geht es anders zu. Keineswegs einfacher. Die Greifhand muss sich im Moment des Absprungs – nicht zu früh, nicht zu spät – öffnen und beim schwungvollen Hinlangen mit gestrecktem Arm, um sich am nächsten Ast zu sichern, – nicht zu früh, nicht zu spät – wieder schließen. Wenn’s daneben geht, plumpsen schwere Orang-Utans (die männlichen bis 90 kg) zu Boden. Allerdings gut, dass sie zusätzlich auch Greiffüße haben, so dass es vielleicht noch ein letztes Halten für sie gibt.
Hangeln heißt, vor dem Tun – hier Schwingen und Greifen – sich von der räumlichen Umgebung schon einmal ein passendes Bild machen zu können. Ethologen sprechen von der „zentralen Repräsentanz des Raumes“, möglich dank des zentralen Nervensystems. Besonders das Großhirn, verschaltet mit den motorischen Unterzentren, muss nach Möglichkeit alles schon im Vorhinein berechnet haben, so dass der Raum, der den Primaten umgibt, zentral in ihm „gegenwärtig“ ist. Abstrahiert vom Tun nennen wir es dennoch „begreifen“, soweit es nicht „unfassbar“ erscheint.
Dass das gesamte Denken des Menschen seinen Ursprung aus dem „vor-gestellten“ Raum genommen hat, während darin das Handeln von der Motorik gelöst sein kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Vielmehr scheint diese ursprüngliche Funktion selbst für unsere höchsten und komplexesten Denkakte die unentbehrliche Grundlage zu bilden.
Alle unanschaulichen Verhältnisse übersetzt unsere Sprache ins Räumliche. Übrigens, alle Sprachen tun es, ohne Ausnahme. Auch Zeitverhältnisse – offenbar hat die neu erschlossene vierte Dimension des Zeitlichen kein eigenes Vokabular – werden stets räumlich ausgedrückt. So sagt man: „Über“-morgen oder „Vor“-gestern, „inner“-halb eines Zeit-„raumes", „unter"-dessen und „vorüber"-gehend".
Bei seelischen Vorgängen sprechen wir nicht nur von „außen“ und „innen“, sondern auch von „über“ und „unter“- Gemeint ist die Schwelle des Bewusstseins, somit vom „Unter"-bewussten, auch vom „Vorder-“ oder „Hinter"-gründigen, von den „Tiefen“ und „Schichten“ der Seele. Eben sie ist es, die unsere immanente („inne"-wohnende) Identität bezeichnet. Zwar unsichtbar, aber mit unserem Leben und Werden verknüpft.
Offensichtlich gilt es nicht nur für die Geschichte der Sprache, sondern mehr noch für die stammesgeschichtliche Entwicklung unseres Denkens insgesamt, also auch für das vor- und unsprachliche (nonverbale) Denken. Wie wenig es selbst in den höchsten intellektuellen Leistungen des angeblich nur an die Sprache gebundenen menschlichen Denkens an Bedeutung verloren hat, geht daraus hervor, welche Bezeichnungen wir heute noch für die komplexesten und abstraktesten Leistungen des menschlichen Geistes verwenden. Gerade sie sind es nämlich, die unmittelbar an die zentrale Repräsentation des Raumes gebunden sind. Folgerichtig gewinnen wir „Einsicht“ in einen „verwickelten Zusammenhang“ – wie der Affe im Gewirr von Ästen –, aber richtig „erfasst“ haben wir einen „Gegenstand“ erst, wenn wir ihn „begriffen“ haben. In den letzten drei Ausdrücken tut sich übrigens der uralte Primat des Haptischen vor dem Optischen in schöner Weise kund.
Mag es als eine Mahnung zur Bescheidenheit dienen, dass wir bei der Darlegung selbst höchster philosophischer Operationen gezwungen sind, Ausdrücke zu verwenden, die ihre affenartige Herkunft so eindeutig offenbaren. Wenn wir’s nicht fassen können, fassen wir uns in einer Übersprungshandlung, gleichsam ersatzweise an den Kopf, denn unsere zufassenden Hände sind, wenn wir vom Begreifen sprechen, ja schon längst nicht mehr im Spiel.
In dem gedanklichen Kosmos können Aktionen im Voraus simuliert werden. Ein Denken nicht nur für das Jetzt, auch für ein Demnächst eröffnet jene Dimension, die der „voraus"-denkende Mensch „Zukunft" nennt. Somit haben wir ausgesprochen das „Vor"-denken von unseren schwingenden Ahnen geerbt.
Das Denken vor dem Tun („prä"-operantes Denken), dazu braucht es ein leistungsfähiges Gehirn. Je mehr davon und differenzierter, desto besser. Der aufrechtgehende und somit leichter in die Ferne sehende Mensch erhebt über allen Geschöpfen sein Haupt samt Hirn, beachtlich in Kapazität und Klasse, mit dessen Hilfe er sich nicht nur das „Nahe"-liegende, sondern, wenn er „nach"-denkt und infolgedessen folgerichtig „vor"-denkt, auch über den Horizont des unmittelbar Sichtbaren hinausschauen kann.
So mag er sich Welten „vor"-stellen. Unter dem, was wir als „Welten" bezeichnen, be-„greift" man per Definition, wie sie das Lexikon in bekannter Weise kurz-„fasst", etwas „Seiendes“. Es „um-fasst“ Phänomene unterschiedlichster Art. Das, was „Welt" besagt und wie sie ein Mensch mit seinem geistigen Auge sieht, – wo ist sie objektiv? – ergibt sich immer nur aus seiner eigenen „Welt"-sicht.
Zur Induktionsproblematik siehe auch Karl Raimund Popper (1902-1994).
Eingangsbild: Grafische Bearbeitung E. Isenberg
Abb. Orang Utan, Darstellung aus dem 19. Jahrhundert, gemeinfrei
Abb. Eichhörnchen, Isenberg