Ein Genie, wie‘s manchmal heißt, geht anderen auf den Geist, zumal Kleingeistige oftmals darüber erschrecken, dass ein Genie, das man vielleicht später mal einen großen Geist nennen wird, eine Wendung weiß, die sie selbst niemals eingeschlagen hätten. Vielleicht haben sie’s nur noch nicht verstanden, denn oft wird ein Genie, was sein Schicksal zu sein scheint, von seinen Zeitgenossen verkannt.
Vorab eine Geschichte, die vielleicht so oder ungefähr so wahr war. Sartorius von Waltershausen sprach 1855 im Auftrag der Universität Göttingen beim Begräbnis von Carl Friedrich Gauß und gab über seinen Freund die Anekdote zum Besten, dass dieser schon als Schüler nach zwei Jahren Elementarunterricht in die Rechenklasse der Catherinen-Volksschule in Braunschweig seinen Lehrer Büttner durch das schnelle Zusammenzählen einer arithmetischen Reihe überrascht habe.
Damals, so lautet das Narrativ, hatte sich der Lehrer gemütlich zu einem zweiten Frühstück zurückgezogen, indem er seine Schüler:innen mit einer Rechenaufgabe für einige Zeit beschäftigt zu haben glaubte. Doch schon nach zehn Minuten klopfte der kleine Carl Friedrich an die Tür der Lehrerwohnung nebenan und meldete, er habe die Lösung.
„Was? – Das kann doch nicht sein!“ Der Lehrmeister legte seine gerade angebissene Stulle zusammen und ging mit dem vorlauten Knaben, den er am Ohr hinter sich herzog, in den Klassenraum zurück. Dort brüteten die Kleingeister noch über Ihrer Aufgabe, weit von einem Endergebnis entfernt. „Stellt euch vor“, sagte der Lehrer, „Carl Friedrich will schon wissen, was die Lösung ist.“
Nun ja, es war bekannt, dass er bereits als Dreijähriger seinen Vater bei der Lohnabrechnung korrigiert hatte. Dennoch legte Büttner den kleinen Gauß erst einmal, wie‘s damals im Geiste der „Rohrstockpädagogik" üblich war, übers Knie und drosch, dass es die Mitschüler:innen nur so schauderte, auf ihn ein.
Da die Maßnahme außer dem Effekt von roten Striemen auf dem Hintern des gewitzten Knabens keinen weiteren Lernfortschritt zeigte, – was sollte das dem jungen Genie auch schon lehren? – lenkte der Lehrer in seinem irren Wirken endlich ein. „Überhaupt“, so fragte der zunächst unüberlegt in Rage versetzte Pädagoge, der er das doch auch irgendwie war, „welche Lösung – du Naseweis! – soll das denn sein?“ – „Genau! Streber! Angeber! Das weiß nur, wer schummelt!“, kam es aus den hinteren Reihen dumpfer Kleingeister.
Der Carl Friedrich raffte seine Hose hoch, stellte sich vor die Klasse und erläuterte seinen Mitschüler:innen: „Wenn ich jeweils die erste und die letzte Zahl, das heißt eins und hundert zusammenzähle, als nächstes zwei und neunundneunzig, drei und achtundneunzig, u. s. w., so erhalte ich jedes Mal die Summe von einhunderteins. Wenn ich jede Zahl von eins bis hundert zur Addition nur einmal verwende, geht das fünfzig Mal. Fünfzig Mal einhunderteins, so ist die Gesamtsumme, das könnt selbst ihr im Kopf rechnen, fünftausendfünfzig.“
Gottlob war der Lehrer des kleinen Gauß so kleingeistig nicht, dass er die Genialität seines Schülers verkannte. Er förderte ihn, soweit es ihm möglich war.
Zunächst sorgte er für ein anderes Rechenbuch aus Hamburg, bevor der ortsansässige Mathematiker Johann Christian Martin Bartels (1769 - 1836) ihm brauchbare Bücher zum gemeinsamen Studium zukommen ließ und dafür sorgte, dass Gauß 1788 das Martino-Katharineum in Braunschweig besuchen konnte. Danach ging’s mit ihm steil bergauf.
Auch die, die vielleicht an Dyskalkulie (Rechenschwäche) leiden, hatten ihn hierzulande von 1991 an bis zur Umstellung auf den Euro gelegentlich als Zehn-Mark-Schein in der Hand.
Zweifellos war der darauf abgebildete Carl Friedrich Gauß einer der größten Mathematiker und Astronomen. Er wurde 1777 in Braunschweig geboren und war fast ein halbes Jahrhundert lang Direktor der Sternwarte in Göttingen.
Zu Weltruhm kam Gauß, als er 1801 – im Alter von 24 Jahren – im Handumdrehen eine stark verbesserte Methode zur Bahnberechnung von Himmelskörpern entwickelte. Damit war es möglich, den am 1. Januar 1801 entdeckten und bald darauf im Sterngewirr verlorenen Kleinplaneten Ceres wiederzufinden.
Gauß, der schon zu Lebzeiten den Ehrentitel „Fürst der Mathematiker“ trug, hat Bahnbrechendes in einer Vielzahl von Disziplinen geleistet – etwa Geometrie, Zahlentheorie, Himmelsmechanik, Landvermessung, Erdmagnetismus und Optik. Er hat das Königreich Hannover vermessen, gemeinsam mit Wilhelm Weber den ersten elektromagnetischen Telegrafen gebaut und nebenher ein Formelwerk aufgestellt, mit dem sich das Osterdatum für jedes beliebige Jahr berechnen lässt.
Gauß schrieb auf Deutsch, Latein, Französisch, Englisch und Russisch. Nicht wenige Historiker meinen, noch immer habe niemand die volle Breite des Gaußschen Werkes ermessen, weil kaum jemand so viele Sprachen spricht und sich zugleich in all den Disziplinen auskennt, in denen Gauß gearbeitet hat.