Schlimmer ist, was perdu für immer ist.

 

„Oh je, sieh mal deinen Teddy, wie schmuddelig der aussieht!" , sagte meine Mutter. Den müssen wir mal waschen."

Gesagt, getan, nach der unvermeidlichen Wäsche war er danach gar nicht mehr kuschelig. Was man nun als Waschbär" bezeichnen musste, glich vom Fell her eher einem Zotteltier". An seinen kurzen Ohren mit Wäscheklammern an die Leine aufgehängt, wollte er an der Luft so recht nicht trocknen. Beschleunigt durch den heißen Luftstrom eines Föhns wurden die angenähten Teile, vor allem die Glasaugen, bedenklich locker, wohingegen der mit Holzwolle prall gestopfte Body des strapazierten Schmusetiers längere Zeit feucht blieb. Jetzt müffelte er fast so, wie man's von einem leibhaftigen Bär kennt.

Auch sonst störte es mich, wenn beim Spielzeug etwas nicht mehr so war, wie es sein sollte, etwa etwas kaputt gegangen oder abhandengekommen war. So das gerissene Band im Schritt des Hampelmanns. Alles, womit der besagte Mann hätte hampeln können, hing nun schlaff herunter. Und dann der „Waschbär". Ich hatte es schon befürchtet. Ihm fehlte nun das linke, bereits gelockerte Auge. Solange man Dinge erneuern bzw. ersetzen konnte oder die Hoffnung bestand, sie wiederzufinden – so wie das fehlende, offenbar des Nachts im Schlaf verschluckte Glasauge vom besagten Zottelbär". Nach erfolgter Darmpassage landete es wieder in der Kloschüssel, so dass sich die Tragik des Verlustes in Grenzen hielt.

Ganz anders rührten mich solche Fälle, wenn etwas unwiederbringlich perdu war. Ungleich schlimmer ist, wenn das, was fehlt, für immer ist. So zum Beispiel, wenn mir mein Onkel die Hand reichte und ich fühlen konnte, dass an seinem Mittelfinger rechter Hand was fehlte. Genau besehen die beiden vorderen Fingerglieder. Mir zum Trost witzelte er selbst darüber und zählte vor meinen Augen seine Finger ab, mit: „Eins, zwei, kapores, vier, fünf“.

„Kapores“? Ein merkwürdiges Wort, das sich nach kaputt" anhört. In der Tat ist der Ursprung im Rotwelschen bezeugt. Dort wurde es herausgelöst aus dem westjiddischen „kapores shlogn“, womit ursprünglich das Schlachten von Hühnern als Sühne- beziehungsweise Versöhnungsopfer (kapārōṯ) gemeint war.

Als Kind wurde ich oft zum Einkaufen geschickt. Zum Fleischer ging ich gerne, denn dort erwartete mich eine Scheibe Fleischwurst, die mir der freundliche Metzgermeister jedes Mal vom frischen Wurstkringel abschnitt und über die Ladentheke reichte, mit den Worten: „Junge, von Wurst wirste groß und stark. Da kriegste rote Backen von. Das siehst Du ja an mir.“ 

So wie er aussah, mochte ich das gerne glauben. Vermutlich meinte er aber seine roten Wangen". Rote Backen", wenn es die Backen wären, hätte allenfalls der Pavian am Po. 

Was ich zu meiner Verwunderung allerdings mit großen Kinderaugen vernahm, statt einer Hand, gar eines Unterarms, stakste rechter Hand, so sie ihm dort fehlte, ein gebogener Metallhaken aus dem hochgekrempelten Ärmel hervor. Damit hakte er sich in ein blutiges Gerippe ein, das er aus dem Kühlraum geholt hatte und auf den Hackklotz legte. Mit einem gezielten Schlag trennte er mit dem Beil ein Kotelett nach dem anderen heraus. Von ihrer Sorte sollte ich auf meinem Einkaufszettel mehrere mitbringen.

Während er so schlagartig hantierte, kam der ungeheuerliche Gedanke in mir auf, ob sich der freundliche Metzger womöglich seine Hand in einem unachtsamen Moment selbst abgehackt haben könnte? Mit jedem weitere Schlag zuckte ich zusammen. Beim letzten Kotelett brach sich bei mir dann doch nüchterne Logik Bahn. Wie sollte er noch eine weitere Hand abhacken. Seine verbliebene Linke brauchte er ja für das Umfassen des Hackebeils, um gezielt zwischen die Rippen zu schlagen. Mit der besagten Rechten, die nur noch aus einem gebogenen Haken bestand, wäre das nicht so einfach zu hand"-haben gewesen. 

Als ich nach dem Einkauf meiner Mutter schilderte, was mir beim Metzger in den Sinn gekommen war, konnte sie mich beruhigen, zumal sie wusste, dass er sich die Hand nicht selber abgeschlagen, stattdessen die Verletzung aus dem Krieg mitgebracht, genauer gesagt, seine Hand dort verloren habe, nachdem er eine Granate abwerfen wollte, die ihm am Ärmel hängen geblieben war. Wie schrecklich! Wumms, perdu, und wie man denken kann, für immer.

Danach hätte er, so erzählte mir meine Mutter, stattdessen die linke Hand heben müssen, die bekanntlich als unschicklich, für uns Kinder als das böse Händchen" galt. Den erhobenen Stumpf rechter, nunmehr entledigter Hand erhoben zum „Hitlergruß“ hätten die Nazis womöglich als Hohn verstanden. Der Ruf „Heil Hitler!" wollte ihm, dem das Unheil für alle sichtbar widerfahren war, eh nicht mehr über die Lippen kommen. Er habe nur immer „drei Liter!" gerufen, was sich für die dumpfen Volksgenossen neben ihm, die nur ihr eigenes Gebrüll vernahmen, so ähnlich anhörte.

Als Nachkriegskind wusste ich, der Krieg war damals nicht nur verloren, sondern auch – Gott sei Dank! – zu Ende. Für viele, die verwundet von der Front zurückgekommen waren, ging der Lebenskampf bis zu ihrem Lebensende allerdings weiter, fortan verstümmelt, als Krüppel, wie’s im Amtsdeutsch hieß, invalide, vom Wortsinn her irgendwie „unwertig“ für die Gesellschaft.

„Nie wieder Krieg!“, hieß es damals. – Wie auch jetzt wieder, was heute heißt. Das sagte einer meiner Onkel jedes Mal, wenn er ans Holz seiner Beinprothese klopfte. Nicht wo", war die Frage, das wusste er nur zu gut, „für was" hab ich mein Bein verloren? Für einen verlorenen Krieg? Den feigen GröFaZ (den Größten Führer aller Zeiten"), der sich mit einem Kopfschuss, also „sch(l)ussendlich" der Verantwortung entzogen hat, während nun er in dieser Welt von Trümmern und Schande mit nur einem Bein durchs Leben humpeln müsse?“ 

Viele waren es damals, bei denen etwas abhandengekommen war, auch das Vertrauen in das Gute im Menschen. In den Kirchen, die angesichts der geläuterten Seelen, die statt im Völkischen wieder im Christlichen ihr Heil zu finden glaubten, viel voller waren als zuvor, hörte man es klappern und die Scharniere klacken, wenn die amputierten Kriegsheimkehrer sich mit ihren Krücken nach vorne zum Kommunionempfang bewegten.

Wer nicht im Glauben Trost fand, beendete sein trostloses Dasein auch schon mal unterm Dachgebälk mit dem Strick. Die mehr schlecht als recht weiterzuleben versuchten, sahen sich oft nur noch als halbe Portion, Männer, die sich nicht ernst genommen fühlten und selbst den Argwohn ihrer heranwachsenden Söhne, denen sie Vorbild sein sollten, verspürten.

Unser Hausmädchen studierte im Bistumsblatt stets die Heiratsanzeigen. Zumal damals viele Männer gefallen waren – „Sag mir, wo die Männer sind! Wo sind sie geblieben?“ –, suchten viele Frauen nach einem Mann fürs Leben. Auch junge Kriegerwitwen versuchten es noch mal.

„Na, haste was Passendes für dich gefunden!“, fragte ich sie keck. „Nicht wirklich. Ich nehm ja auch nicht jeden, nicht so einen Einarmigen, schon gar keinen Flamingo. Es muss schon ein richtiger Kerl sein, bei dem noch alles dran ist.“

Schrecklich, dachte ich. Ein Flamingo? Sowas kannte ich aus dem Zoo, wo die rosa Vögel den lieben langen Tag auf einem Bein im Wasser herumstanden. Ich konnte mir schon denken, wen sie damit meinte.

Was wie ein Bein oder sonst an Gliedmaßen perdu ist, das ist unwiederbringlich. Manchmal muss aus medizinischen Gründen, wenn das Amputieren unumgänglich ist, auch in Friedenszeiten die Knochensäge zum Einsatz kommen. So ein Sterben in Teilen mag einem zunächst sein Leben im Ganzen retten. Doch traurig ist es allemal.

Man erzählte von einem gehbehinderten Herrn, der einmal im Jahr mit der Straßenbahn – der Tram oder Bim, wie auch immer sie der Wiener nennen mag – dort zum großen Zentralfriedhof herausfuhr. Wenn „Endstation!" ausgerufen wird, versteht das jeder Fahrgast im doppelten Sinn.

In der zum Zentralfriedhof führenden Linie 71 wurden seit 1918 bis 1942 sogar nachts Leichentransporte in drei eigens dafür bestimmten Straßenbahnwagen durchgeführt. 

Der besagte Herr suchte jedes Jahr dort die Stelle auf, wo man beizeiten Gebeine, also Gliedmaßen, die man in den Kliniken amputiert hatte, auf Wunsch bestatten lassen konnte. 

Passanten, die ihn auf dem Zentralfriedhof antrafen, meinten, dass er vermutlich seine Frau betrauere. Ein Grabstein mit dem Namen der Verstorbenen schien noch zu fehlen. „Nein“, sagte der alte Herr, „ich war und bin immer noch Junggeselle und komme jedes Jahr hierhin und betrauere mein Bein. Man könnte sagen, ich steh schon mit einem Bein im Grab."

Traurig, aber doch auch tröstlich, wenn man zumindest im gedanklichen Sinne noch verbunden bleibt mit dem, was einem auf immer „ab“-handen gekommen ist.